Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)
Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China
Georg Lehner - Monika Lehner Shenyang ein. „Grosse Massen Boxers“ würden von Shenyang nach Niuzhuang marschieren, „von wo sämmtliche Europäer fliehen“; auch in Tianjin hatten am 6. Juli wieder heftige Kämpfe eingesetzt. Diese Entwicklungen und Gerüchte über eine angebliche große Katastrophe in Beijing ließen Pisko am 9. Juli zu folgendem Schluss kommen: Unter solchen Umständen ist es kein Wunder, dass auch hier die Erregung nicht nachlassen will, daß die bereits gemeldete Flucht der chinesischen Bevölkerung aus Shanghai bereits sehr bedeutende Dimensionen angenommen hat.331 Mitte Juli spitzte sich die Lage trotz der Einnahme von Tianjin weiter zu. Wie Pisko nach Wien telegraphierte, hatte Yuan Shikai mitgeteilt, dass die belagerten Gesandtschaften am 7. Juli neuerlich von regulären Einheiten der Qing-Armee und Anhängern der Yihetuan unter Kanonenfeuer genommen worden waren. Im Arsenal von Shanghai setzten die chinesischen Behörden ihre Rüstungen fort und Pisko berichtete ferner über „große Unruhen“ in Ningbo.332 Hatte man in Shanghai über die Kämpfe um Tianjin relativ rasch zuverlässige Informationen erhalten, so war man über die Lage der Eingeschlossenen in Beijing vollständig auf Mutmaßungen angewiesen: „Ueber die Situation in Peking ist leider eine verlässliche Nachricht nicht zu erhalten. Allgemein wird angenommen, dass die chinesischen Mandarine uns absichtlich die Wahrheit verschweigen. Der Umstand, dass die letzte aus Peking von Europäern stammende Nachricht von 30. Juni datirt ist, und dass in dieser Nachricht eine Katastrophe bereits als unmittelbar bevorstehend bezeichnet wird, lässt leider fast jede Hoffnung schwinden.“333 Am 20. Juli wurde in Shanghai bereits die Ankunft des neuerlich zum Generalgouvemeur der Provinz Zhili ernannten Li Hongzhang erwartet. Die Konsularvertreter der Mächte vermuteten, dass Li Hongzhang mit ihnen Verhandlungen aufhehmen wolle, doch waren sie mehrheitlich der Ansicht, dass Verhandlungen mit Li „in dem gegenwärtigen Zeitpunkte [...] völlig überflüssig“ wären. In Shanghai hatte sich die Lage nicht wesentlich verändert. Liu Kunyi und Zhang Zhidong wären nach wie vor bemüht, sich den Konsuln gegenüber korrekt zu verhalten, allerdings war es in den ihnen unterstehenden Provinzen schon zu kleineren Ruhestörungen gekommen. Die neun Kriegsschiffe, die damals vor Wusong lagen und die circa 2 400 Bewaffneten in Shanghai ließen Pisko „bis auf Weiteres die persönliche Sicherheit der hier lebenden Europäer nicht für gefährdet“ halten. Die Konsuln standen in ständiger Verbindung mit den Kommandanten der Kriegsschiffe und dem zu Beginn der Unruhen im Norden für Shanghai eingesetzten Verteidigungskomitee. Chinesische Zeitungen unterlagen der Zensur. Das Verbot des Waffenverkaufs wurde kontrolliert.334 331 HHStA, P.A. XXIX/18, Pisko an MdÄ, Bericht ZI. LXXIV Polit., Shanghai, 9.7.1900, zu den angeblichen Truppenverschiebungen nach Norden vgl. auch ebenda, Pisko an Gotuchowski, Bericht ZI. LXXX Polit., Shanghai, 24.7.1900. 332 HHStA, P.A. XXIX/14, Pisko an MdÄ, Telegramm No. 9 629, Chiffre, Shanghai, 13.7.1900. 333 HHStA, P.A. XXIX/18, Pisko an Gotuchowski, Bericht ZI. LXX1X Polit., Shanghai, 20.7.1900. 334 Ebenda. 110