Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China

Georg Lehner - Monika Lehner über den Kreismagistrat von Shanghai Yu Lianyuan und über den Generaldirektor der chinesischen Eisenbahnen- und Telegraphenverwaltung Sheng Xuanhuai32' die Konsuln ersucht, dieselben mögen im Namen ihrer Regierungen eine Convention mit den beiden Vicekönigen abschliessen, wonach die europäischen Mächte sich verpflichten sollten, deren Provinzen nicht anzugreifen, insolange in denselben die Ruhe aufrecht erhalten bliebe.’22 Im Namen der beiden Generalgouverneure erklärte Sheng Xuanhuai den Konsuln, dass Liu und Zhang die Absicht hätten, „alle Provinzen südlich des Yangtze“ zu neutralisieren und dass sie die „gegenwärtige Regierung“ in Beijing nicht anerkennen würden, da dort nicht der Guangxu-Kaiser oder die Kaiserin-Witwe, sondern Prinz Duan die Führung übernommen habe und — wie Pisko es formulierte — „der eigentliche Herrscher sei“. Die Konsuln hatten vorläufig keinen Grund, an der „Aufrichtigkeit“ der beiden Generalgouvemeure zu zweifeln, zumal sich auch Li Hongzhang323, zu diesem Zeitpunkt generalgouvemeur der beiden Guang- Provinzen (Liang-Guang zongdu), deren Haltung anschließen wollte. Pisko äußerte jedoch Zweifel an der Wirksamkeit dieser Erklärungen: Ob jedoch die beiden Vicekönige wirklich im Stande sein werden, vom Norden kommenden Truppen und Bewaffneten ihre eigenen Leute entgegenzustellen, ob nicht der Einfluss gewisser, im Yangtze kommandirender, ganz besonders boxerffeundlicher und fremdenfeindlicher Generale Oberhand gewinnen wird, ob überhaupt die von Liu kun yi [Liu Kunyi] und Chang chi tung [Zhang Zhidong] den Consuln gegenüber zur Schau getragene vollständige Ignorirung der Centralregierung in Peking auf die Dauer hin durchführbar sein wird, dies Alles bleibt abzuwarten. Pisko berichtete, dass binnen dreier Tage „über 30 000 Chinesen von Shanghai geflohen sind.“ Am 28. Juni erließ das Konsularkorps eine Proklamation an die chinesische Bevölkerung von Shanghai, in der die „friedlichen Absichten“ der in Shanghai lebenden Europäer betont wurden.324 Während Gottwald bis in die zweite Julihälfte ohne direkte Nachrichten aus Beijing bleiben sollte, waren die Konsularvertreter in Shanghai schon zu Beginn des Monats über die dramatischen Vorgänge in den belagerten Gesandtschaften informiert. Pisko hatte schon am 1. Juli die Ermordung des deutschen Gesandten Ketteier nach Wien gemeldet. Am 23. Juni wären noch drei Gesandtschaften gestanden: Vizekönige Yangtze-Provinzen, welche Befehl haben, Feindseligkeiten zu eröffnen, wollen trotzdem Neutralität bewahren, verlangen jedoch von den Consuln neuerlich Zu Sheng’s Rolle im Juni 1900 vgl. Albert Feuerwerker, China’s Early Industrialization. Sheng Hsuan-huai (1844-1916) and Mandarin Enterprise, Cambridge, Mass. 1958, ND New York 1970, S. 72f. HHStA, P.A. XXIX/17, Pisko an Goluchowski, Bericht CXI Polit., Shanghai, 29.6.1900. Zur Haltung Li Hongzhang’s während des Jahres 1900 vgl. Chan Lau Kit-ching, Li Hung-chang and the Boxer Uprising, ln: Monumenta Serica 32 (1976), S. 55-84; vgl. auch Memoirs of the Vice­roy Li Hung Chang, with an introduction by John W. Foster, London 1913, S. 227-255. HHStA, P.A. XXIX/17, Pisko an Gotuchowski, Bericht CXI Polit., Shanghai, 29.6.1900. 108

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