Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)
Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China
Georg Lehner - Monika Lehner Nach einigen Telegrammen, die er über die sich zuspitzende Lage in Beijing nach Wien gerichtet hatte, schrieb Konsul Julius Emst Pisko eine erste gedrängte Darstellung der politischen Situation auf Grund der bisher hier eingelangten Nachrichten [...], nachdem anzunehmen ist, dass in absehbarer Zeit keine Berichte von der k. und k. Gesandtschaft in Peking an EUER EXCELLENZ gelangen können.311 312 * Er resümierte, dass der Aufstand „Ende Mai“ in der Provinz Zhili ausgebrochen war. Pisko berichtete, dass die Kaiserin-Witwe offen „die Partei der Insurgenten ergriffen“ hatte und General Nie Shicheng, der die Aufständischen zunächst energisch bekämpft hatte, degradiert worden war. Die „reactionärsten boxerffeundlichen Staatsmänner“ waren mit der Leitung der Regierung betraut worden.112 Pisko war der Ansicht, dass die Generalgouvemeure des Changjiang- Tales die aufständische Bewegung ablehnten, „und ist es hauptsächlich diesem Umstande zu verdanken, wenn vorläufig in ihren Provinzen noch keine grösseren Unruhen ausgebrochen sind.“ Sollte es jedoch zu offenen Revolten kommen, fürchtete Pisko, dass „die Provinzialregierungen nicht stark genug sind, um dieselben zu unterdrücken.“ Ganz in diesem Sinne waren in Shanghai bereits Vorkehrungen für den möglichen Ernstfall getroffen worden. 200 Polizisten und 500 Freiwillige - darunter auch acht Österreicher - sowie Matrosenabteilungen der im Hafen von Shanghai liegenden Kriegsschiffe waren bereits zur Verteidigung eingeteilt worden und man hofft, dass sie zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Abwehr von feindlichen Angriffen, sich als eine genügende Schutzwehr dieses grössten Handelsemporiums des fernen Ostens erweisen werden.311 Am 22. Juni telegraphierte Pisko, dass Tianjin am 20. „von den Chinesen“ bombardiert worden sei.314 In seinem Bericht vom 26. Juni schrieb er, dass die europäische Niederlassung in Tianjin zerstört worden sei und dass in Shanghai aus allen Teilen des Reiches „Nachrichten von Unruhen und Mordthaten“ eingelaufen seien. Das zur Verteidigung der Konzessionen aufgestellte Korps sei wohl stark genug, „einen Angriff des Pöbels“ Zurückschlagen zu können; einer größeren regulären Einheit der Qing-Armee würden die aufgebotenen Kräfte allerdings kaum erfolgreich Widerstand leisten können.315 Als Vorsichtsmaßnahme und in Erwartung 311 HHStA, P.A. XXIX/17, Pisko an Gotuchowski, Bericht ZI. LXVI1I, Shanghai, 20.6.1900. Am 20.6.1900 war im Ministerium des Äußern der letzte politische Bericht der k. u. k. Gesandtschaft in Beijing eingetroffen. Es war dies der Bericht No. 6 vom 1.5.1900. Vgl. dazu den handschriftlichen Vermerk der Zentralbehörde in HHStA, P.A. XXIX/20, Rosthom an Gotuchowski, Bericht No. 4, II. Serie, Shanghai, 17.9.1900. 312 HHStA, P.A. XXIX/17, Pisko an Gotuchowski, Bericht ZI. LXVIII, Shanghai, 20.6.1900. Zu Nie Shicheng’s Rolle im Juni 1900 vgl. Tan (1955), S. 65; Purcell (1963), S. 248; Esherick (1987), S. 288. 3,3 HHStA, P.A. XXIX/17, Pisko an Gotuchowski, Bericht ZI. LXVIII, Shanghai, 20.6.1900. In einem Postskriptum erwähnte Pisko, dass sich die Konsularkonferenz in Permanenz erklärt und beschlossen habe, die „Anhersendung von mehreren Kriegsschiffen aus Taku zum Schutze der bedrohten Settlements in Shanghai zu veranlassen.“ 314 HHStA, P.A. XXIX/17, Pisko an MdÄ, Telegramm No. 2 041, Chiffre, Shanghai, 22.6.1900. 315 Ebenda, Pisko an Gotuchowski, Bericht ZI. LXIX, Shanghai, 26.6.1900. 106