Georg Lehner, Monika Lehner (Hrsg.): Sonderband 6. Österreich-Ungarn und der „Boxeraufstand” in China (2002)

Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel Österreichischer Berichte aus China

Gerüchten über die politische Situation in Beijing. Sollte die Nachricht Congers authentisch gewesen sein dürfte ein großer Umschwung zu Gunsten der Fremden eingetreten sein und auch die Gerüchte bezüglich des Todes des Kaisers Kuang hsü [Guangxu] und der Geisteskrankheit der Kaiserin-Witwe sich nicht bestätigen. Es ist kaum anzunehmen, dass der angebliche Usurpator Tuan [Duan], gleich nach der Besteigung des Thrones, zu der ihm nur seine fremdenfeindliche Gesinnung als Haupt der Boxerverbindung verholfen haben konnte, Beziehungen mit den fremden Vertretern anknüpfen werde. Ihm schien wohl eher die Aufgabe zuzufallen, den vereinigten Truppen einen Schlag zu versetzen, um so seinen Vorsatz der Fremdenausrottung zu documentiren und die in Ungewissheit über die Gestaltung der Dinge noch immer im Dunkeln herumtappenden Vicekönige für sich zu gewinnen. Sollte die erwähnte Depesche factisch existirt haben, so dürfte ihr Inhalt in einigen Tagen bekannt werden und weitere Schlüsse zulassen. Yuan Shikai hätte bereits früher „beruhigende Nachrichten“ über die Situation in Beijing mitgeteilt. Sollten diese Meldungen nicht den Tatsachen entsprechen, so hätten sie nach Ansicht Gottwalds nur den Zweck verfolgt, „für Befestigungen, Truppen Verschiebungen und andere Vorbereitungen Zeit zu gewinnen.“ Die Tatsache, dass seit dem 29. Juni keine direkte Nachricht von den Gesandten in Beijing nach Tianjin gelangt war, bezeichnete Gottwald als „befremdend“.301 Am 26. Juli 1900 berichtete Gottwald, dass nach der letzten vom französischen Gesandten Pichon eingetroffenen Depesche bereits 26 der eingeschlossenen Europäer den Kämpfen in Beijing zum Opfer gefallen wären. Der britische Gesandte Macdonald hatte in einem Brief vom 4. Juli die Zahl der getöteten Ausländer mit 44 angegeben; die Zahl der Verwundeten sei doppelt so hoch. Wie in Beicang bekannt geworden war, hätten die Truppen von Dong Fuxiang die in den Gesandtschaften Eingeschlossenen in der Nacht vom 8. auf den 9. Juli angegriffen. Britische und amerikanische Truppen hätten die Chinesen in eine Sackgasse getrieben und „1 000 Mann sowie den General Ma [Ma Yukun]“ getötet. In der Region um Beijing wären 16 000 Mann der Qing-Armee zusammengezogen worden, um Yangcun waren 8 000 Mann stationiert.302 Gottwald berichtete unter Datum vom 28. Juli 1900, dass bei Nanhaizi südlich von Beijing etwa 20 Bataillone „und in Wang Ah shan [?] 3 Bataillone Soldaten“ liegen sollen. Aus einer Nachricht des japanischen Militâr-Attachés Oberstleutnant Shiba303 aus Beijing vom 22. Juli 1900 ging weiters hervor, dass die Belagerer seit dem 17. Juli keine Angriffe mehr gegen die Gesandtschaften unternommen hätten. Die Stärke der Belagerer, denen „3 bis 4 Geschütze“ zur Verfügung standen und deren Munitionsvorräte knapp wurden, wurde auf sechs Bataillone geschätzt. Zudem würden alle Tore der Tatarenstadt von kleineren Truppenabteilungen bewacht. Drei Zugänge - Qianmen, Hadamen und Shunzhimen - seien geschlossen, Die Unruhen des Sommers 1900 im Spiegel österreichischer Berichte aus China 102 HHStA, P.A. XXIX/19, Gottwald an Pisko, Taku, 26.7.1900, Beilage 1 zu: Pisko an Gotuchowski, Shanghai, 3.8.1900. 303 Shiba Goro, geboren 1858, Ausbildung in der Militärakademie, 1884 Leutnant, 1889 Hauptmann, 1894 Major, 1899 Oberstleutnant, 1902 Oberst, 1907 Generalmajor- Who’s Who in Japan 1912, S. 810. 103

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