Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Von der alten zur neuen Ordnung - Jože Pirjevec: Die Sowjetunion 1917 bis 1989

Joie Pirjevec Hitler zurückzuführen. Bereits in seiner ersten Rundfunkansprache nach dem deut­schen Angriff setzte Stalin auf den großrussischen Patriotismus. Er sprach seine Hörer nicht mit „Genossen“, sondern mit der alten Anrede „Bratja i sjostri“ (Brüder und Schwestern) an. Anstelle von „sowjetischer Staat“ gebrauchte er „otjecestvo“ (Vaterland) und er wandte sich auch nicht mehr an das „sowjetische“, sondern an das „große russische Volk“. Stalin instrumentalisierte auch die orthodoxe Kirche, der er eine Verbindungsfunktion zuschrieb; 1943 durfte erstmals wieder ein neuer Patriarch gewählt werden.9 10 Hitler verhielt sich insofern ungeschickt, indem er nicht auf seinen Chefideolo­gen Alfred Rosenberg, der in seiner Jugend zaristischer Offizier war, hörte. Dieser riet ihm, die Unzufriedenheit der nichtrussischen Völker, vor allem der Ukrainer, zugunsten Nazi-Deutschlands auszunutzen. Im Gegensatz dazu betrieb Hitler in den besetzten sowjetischen Gebieten eine Politik der völligen Ausbeutung, Ernied­rigung und Vernichtung, nach dem Motto seines Reichskommissars Erich Koch: „Meine Herren, bekanntlich bin ich ein bissiger Hund. Gerade deswegen wurde ich zum Reichskommissar für die Ukraine ernannt. Unsere Aufgabe ist es, aus der Ukraine alle Säfte zu saugen, ohne Rücksicht auf die Gefühle der Ukrainer und auf ihre materielle Situation.“"1 Mit dem Ausbruch des Zweiten Weltkrieges begann die zweite imperialistische Phase der Sowjetunion. Nach der Revolution von 1917 hatten sich Finnland, Polen, die baltischen Staaten und Bessarabien aus dem Griff der Bolschewiken befreit. Im Laufe des Zweiten Weltkrieges wurden diese Staaten mit Ausnahme Finnlands wieder gänzlich oder zumindest teilweise dem sowjetischen Bereich eingegliedert. Die 1948 erfolgte Errichtung von Moskau hörigen Regimen in Polen, Ungarn, Bulgarien und der Tschechoslowakei erweiterte entscheidend den Einflußbereich der Sowjetunion. Diese vom Siegeszug der Roten Armee nach Mitteleuropa ermöglichten großen Erfolge verliefen parallel zur Etablierung einer Nomenklatura, die mit der alten leninistischen Garde nichts mehr zu tun hatte und die Stalin bedingungslos ergeben war. Doch bereits die Konflikte zwischen Tito und Stalin, die am 28. Juni 1948 publik wurden, verdeutlichten, auf welch tönernen Füßen der sowjetische Koloß eigentlich stand. Das Prinzip des proletarischen Internationalismus und die Praxis des demokratischen Zentralismus erwiesen sich als zu schwach, um dem Bestreben der einzelnen Völker nach politischer und staatlicher Individualität entgegenzuwir­ken. In den folgenden Jahren und Jahrzehnten kam es wiederholt zu Aufständen gegen die sowjetische Herrschaft - 1953 in Deutschland, 1956 in Polen und Un­garn, 1968 in der Tschechoslowakei-, die mit Ausnahme des polnischen mit Pan­zern niedergeschlagen wurden. Nach Beendigung des „Prager Frühlings“ formu­9 P o 1 i t ic es kaj a I s t orij a, S. 419. 10 S u b t e 1 n i : Ukraina, S. 585. 36

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