Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Von der alten zur neuen Ordnung - Jože Pirjevec: Die Sowjetunion 1917 bis 1989

Die Sowjetunion 1917 bis 1989 lierte Breznev die Theorie der „begrenzten Souveränität“. Demnach habe die So­wjetunion im Namen des politischen Internationalismus das Recht und die Pflicht, in einem fremden sozialistischen Land militärisch einzugreifen.'1 Diese Theorie erinnert an jene aus den Zwanzigerjahren, wonach die Anerkennung der nationalen Rechte ausschließlich für die Arbeiterklasse gelten sollte; sie erwies sich auch als eine zusätzliche Belastung für die zwischenstaatlichen Beziehungen im sozialisti­schen Lager. Die Schwierigkeiten zwischen Moskau und den Satellitenstaaten - um vom Pro­blem mit China gar nicht zu reden - waren jedoch nicht die unmittelbare Ursache für den Zerfall des Reiches. Eine viel bedeutendere Rolle kam den inneren ökono­mischen, politischen und nationalen Zuständen der Sowjetunion zu, auch wenn nach Stalins Tod die neue Führung mit Nikita Sergeevic Chruschtschow an der Spitze bemüht war, viele Fehler des Diktators zu korrigieren. Außenpolitisch kann dies an der Détente, innenpolitisch am „Tauwetter“ beobachtet werden. Es wurde auch der Versuch unternommen, eine supranationale sowjetische Identität zu bilden und ein entsprechendes patriotisches Selbstbewußtsein zu fördern. Dabei konnten auch beachtliche Erfolge verbucht werden, wie etwa in der Weltraumerforschung mit dem ersten Sputnik. Diese technischen Errungenschaften reichten jedoch nicht aus, um die ethnischen und sozialen Spannungen zu überbrücken. Chruschtschow, der dem Volk „Butter statt Kanonen“ versprochen hatte, konnte sein Wort nicht halten. Anstatt die Lebensverhältnisse zu verbessern wurde im Jahre 1961 die erste 50 Megatonnen starke Wasserstoffbombe gezündet und nur ein Jahr später kam es zur verhängnisvollen Kubakrise. Chruschtschow war es nicht gelungen, die Intelli­genz und die Nationalitäten gegen die konservative Nomenklatura für sich zu ge­winnen. Letztendlich kam es sogar zu einer Entfremdung von diesen potentiellen Bündnispartnern, indem Chruschtschow glaubte, eine sowjetische Identität und den damit verbundenen Sieg des Kommunismus durch eine rasche und rücksichtslose kulturelle und sprachliche Gleichschaltung kreieren zu können. In seiner bekannten Rede an der Universität von Minsk forderte er die Weißrussen auf, ihre Mutter­sprache zu vergessen, um so den Zustand des Kommunismus schneller erreichen zu können. Etwas mehr Fingerspitzengefühl zeigte er im Umgang mit den Ukrainern, was sich darin ausdrückte, daß die Kiewer Regierung 1954 die Krim als „Geschenk“ erhielten. Dem ukrainischen Nationalismus stand er aber äußerst ab­lehnend gegenüber und zudem fügte er der ukrainischen Ökonomie ungeheuren Schaden zu. Mit seiner Besiedelungspolitik des „unberührten Bodens“ in Kazach- stan - die sich als großer Mißerfolg erweisen sollte - entzog er der ukrainischen Landwirtschaft selbst noch die letzten ihr zur Verfügung stehenden Mittel.11 12 11 Cepic, Mirko: Rusija. Kolonialni imperij. Delo, 6. XI. 1998, S. 5. 12 Nezavisimaja gazeta.Nr. 157, 1995, zitiert in Rupnik: Tretji Rim. Pachl’ovska: La russi- ficazione, S. 159. 37

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