Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Von der alten zur neuen Ordnung - Hanns Haas: Das Ende der Habsburgermonarchie

Das Ende der Habshurgermonarchie Wahlrecht für Männer zustimmte, um den Nationalismus zu bändigen.’0 Diesem politischen Emanzipationsschritt folgte jedoch nichts weiter als der Zerfall der „kleinen“ Sozialistischen Internationale der österreichischen Reichshälfte und die weitgehende Nationalisierung der Christlichsozialen.30 31 Zuletzt blieben daher alle Versuche einer neuen multinationalen Reichsgestaltung auf dem Papier, weil sie - typisch für dieses Staatswesen - auch den Nationalitätenkampf institutionalisieren und verrechtlichen wollten, was doch ganz im Widerspruch zum plakativen, fun­damentalistischen, fordernden nationalen Kulturstil stand. Auf diese Weise existierten zwei Loyalitäten nebeneinander, eine habsburgische, die sich auf ein funktionierendes Institutionengerüst mit nicht geringer sozialer und wirtschaftlicher Erfolgsbilanz berief und eine nationale, die der eigenen Nation in geheiligtem Egoismus angehörte und einen möglichst komfortablen Platz im ge­meinsamen Haus beanspruchte bzw. im Falle der Deutschen und Ungarn vertei­digte. Diese eigentümliche Bipolarität wurde von den Zeitgenossen als Anachro­nismus mit ungewissem Ausgang erlebt. Halb im Unterbewußtsein wirkte die Vor­stellung, daß dieser habsburgische Kaiserstaat doch ein Auslaufmodell darstelle, welches an die Lebensdauer des greisen Monarchen gekettet war. Doch niemand wußte, was nach Franz Joseph kommen würde und keine nationale Bewegung kul­tivierte ernsthaft die Idee einer staatlichen Selbständigkeit. Diese Koexistenz zweier politischer Gestaltungsentwürfe evozierte nicht unbe­deutende geistige Energien, aufbauende ebenso wie zerstörerische.32 Vor allem die Stadt Wien wurde zum Schnittpunkt der Kulturen, welche hier zeitweise sogar zur Synthese fanden, wenn auch lediglich in den Entwürfen einer kulturellen Elite. Bezeichnend für diese intellektuellen Anstrengungen ist die vergleichende Beob­achtung einer durchmischten sozialen Welt. Es sind die Erfahrungen des Judentums im Prozeß der Modernisierung, welche dem Werk Sigmund Freuds assistierten, im Sinne der Koexistenz verschiedener Identitäten: einer österreichischen, deutschen, jüdischen und weltbürgerlichen. Doch nicht nur die neue Aufklärung, auch der neue fundamentalistische, gewaltsame Nationalismus war in dieser Stadt beheima­tet, in welcher nicht zufällig Adolf Hitler seine formative Jugendphase verbrachte. Erst der vierjährige Weltkrieg brachte die ungewollte Entscheidung. Wieder do­kumentiert der aufmerksame Zeuge Franz Kafka diese zögernde Wende. Der Krieg war bei Kafka zuerst einmal der Einbruch des Bösen in eine geordnete Bürgerwelt. Kafkas Hauptroman „Der Prozeß“ ist aus dem Erlebnis des Jahres 1914 geschrie­ben, wenn auch die Auflösung des Verlöbnisses mit Felice Bauer den intimen bio­30 Fellner, Fritz: Kaiser Franz Josef und das Parlament. In: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs [in Hinkunft: MÖStA] 9 (1956), S. 287-347. 31 Konrad, Helmut: Nationalismus und Internationalismus. Die österreichische Arbeiterbewegung vor dem Ersten Weltkrieg. Wien 1976 (Materialien zur Geschichte der Arbeiterbewegung. Bd. 4). 32 Kiss, Endre: Der Tod der k. u. k. Weltordnung in Wien. Wien 1986 (Forschungen zur Ge­schichte des Donauraumes. Bd. 8). 27

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