Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Von der alten zur neuen Ordnung - Hanns Haas: Das Ende der Habsburgermonarchie

Hanns Haas graphischen Hintergrund bildete.33 Doch die ganze eigentümliche zweite Welt, die der Angeklagte Josef K. erlebt, diese Zerstörung seiner bürgerlichen Existenz durch ein unbekanntes Gericht, das ist „Kafkas böses Böhmen“ auf dem Hinter­grund der Zensur, der Rekrutierung, der anwachsenden allgemeinen Not, das sind die Auswirkungen eines Weltgerichtes, welches die prekären Sicherheiten der be­stehenden Ordnung infragestellte. Freilich war Kafka vom Patriotismus nicht unbe­rührt. Zwar lehnte er die lauten patriotischen Kulte ab, doch „Traurigkeit über die österreichischen Niederlagen“ und über „die Niederlagen in Serbien, die sinnlose Führung“ dokumentiert uns sein Tagebuch des Jahres 1914.34 Als später 1917 am Isonzo die militärische Kraft des Habsburgerstaates erlahmte, hoffte er im Traum auf das erlösende Eingreifen der Preußen. Seine ganze bürgerliche Existenz hing vom Fortgang des Krieges ab. Kafka wollte sogar nach dem siegreichen Krieg von den Zinsen seiner Kriegsanleihe leben. Die lange Perspektive desavouierte solche Träumereien. Der Krieg konsumierte die Lebensbedürfnisse von Gegenwart und Zukunft. Der alltäglichen Not folgte die Vernichtung der vorsorglich angesparten Kapitalien. Das breite Volk verarmte, die mittleren Schichten nicht minder wie die niederen. Dieser Niedergang entzog dem habsburgischen Patriotismus den Boden. Die Enttäuschung des Volkes richtete sich bezeichnenderweise nicht gegen den intangiblen Kaiser, sondern gegen den Staat, der seine Sorgepflicht vernachlässigte und durch Kriegsjustiz seine Milde verlor.3S Im Jännerstreik des Jahres 1918 demonstrierte eine halbe Million Menschen „um Frieden und Brot“. Die politischen Eliten der Nationen folgten dieser populären Grundstimmung nur halbherzig, solange der Ausgang des Krieges ungewiß war. Weder die nichtdeutschen Nationen noch die Arbeiterbewegung hatten einen nen­nenswerten Einfluß auf den Zerfall der Habsburgermonarchie. Auch die alliierten und assoziierten Siegermächte gewährten den habsburgischen Völkern das Recht der Selbstbestimmung nur in zögernden Schritten und ohne Aufforderung zur na­tionalen Revolution. Wie vorsichtig die Staatengemeinschaft solchen Zerfallspro­zessen gegenübersteht, konnte man jüngst am jugoslawischen Beispiel beobachten. Von einer Zerschlagung der Habsburgermonarchie kann also keine Rede sein. Erst in der Stunde der Niederlage triumphierte die nationale Idee, allen voran die wenig zahlreichen politischen Emigranten, welche die heimischen Politiker gewisserma­ßen mitzogen.36 Was folgte, war ein friedlicher Machtwechsel. Allen Beteiligten fehlten nach die­sem blutigen Weltkrieg die Ambitionen zu martialischen Aktionen. Die nationalen 33 Canetti, Elias: Der andere Prozeß. Kafkas Briefe an Felice. München 1970. 34 Kafka, Franz: Tagebücher, Eintragungen vom 13. Dezember 1914 bzw. 13. September 1914, S. 312 und 321. 35 Urban, Otto: Die tschechische Gesellschaft 1848 bis 1918. Bd 1. Wien-Köln-Weimar 1994, S. 835-930. 36 Zeman, Zbynëk A. : Der Zusammenbruch des Habsburgerreiches 1914-1918. Wien 1963. 28

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