Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Erbschaft und Erben - Irina Scherbakowa: Der sowjetische Mensch im postsowjetischen Alltag

eine Art und Weise betroffen und fast jeder konnte sich somit zu den Opfern zäh­len.1 Damit blieb aber die Frage nach der Schuld und der individuellen Verantwor­tung ungelöst. Dies wurde schon 1992 deutlich, als der Prozeß gegen die KPdSU völlig versandete und auch die vielen Bemühungen der Historiker, den verbrecheri­schen Charakter der Politik der KPdSU zu entlarven, relativ wirkungslos blieben. Der sowjetische Mensch nach dem Zerfall des Imperiums Der Zerfall der Sowjetunion war die tiefste Veränderung, welche die sowjeti­schen Menschen bewältigen mußten. Um diesen Prozeß zu verstehen, muß aber zuerst gefragt werden, wie die Menschen dieses Imperium empfanden und inter­pretierten. Vor allem wußten sie nur zu gut, daß es sich nicht um eine „freiwillige Union der freien Republiken“, wie es in der sowjetischen Hymne hieß, handelte. 1956 ver­deutlichten die ungarischen und 1968 die tschechoslawischen Ereignisse, daß es nicht nur für die Mitglieder der Union, sondern für die gesamten Ostblockstaaten kein Entkommen aus diesem Imperium gab. Nicht zufällig kursierte in den Sechzi­gerjahren folgender Witz: „An welche Länder grenzt die SU?“ - „An welche im­mer sie will.“ Der sowjetischen Propaganda nach zählte die Völkerfreundschaft zu den wichtigsten Errungenschaften der Sowjetunion. Doch auch hier wußte man nur zu gut, was sich in Wirklichkeit hinter dieser propagierten Völkerfreundschaft verbarg und wie gespannt sich die Beziehungen zwischen den einzelnen sowjeti­schen Völkern gestalteten. Es war zu befürchten, daß die Bombe, die man unter der Landkarte der Sowjetunion zu spüren glaubte, irgendwann zu ticken beginne. Auch zahlreiche Witze aus der Sowjetzeit entblößten den wahren Charakter dieser Freundschaft. So die Frage an das berühmte „Radio Erewan“,1 * * 4 was Völkerfreund­schaft sei und folgende Antwort: „Wenn die Armenier zusammen mit den Russen die Aserbaidjaner schlagen.“ Die hier genannten Völker konnten natürlich x- beliebig ausgewechselt werden.“ Spätestens seit Anfang der Dreißigerjahre bildete die Russifizierung das Hauptziel der nationalen Politik und das russische Volk sah sich zunehmend in die Rolle des „Großen Bruders“ gedrängt. Dabei ging es den Russen aber nicht besser als den übrigen Völkern der ehemaligen UdSSR. Im Gegenteil: Das warme Klima der Kaukasischen Republiken, der fruchtbare Boden der Ukraine oder die im Ge­dächtnis weiterhin verhaftete Nähe der baltischen Republiken zum Westen gestal­teten das Leben in diesen Gebieten etwas attraktiver als in den endlosen Ebenen Der sowjetische Mensch im postsowjetischen Alltag 1 Selbst die Spitzenfunktionäre der Stalinzeit blieben nicht unverschont. Die Ehefrauen von Molo­tow und Kalinin und der Bruder von Kaganowitsch wurden verhaftet; Stalin brachte die gesamte Verwandschaft seiner beiden Ehefrauen in den GULAG. Jeltzins Vater und Onkel waren im Lager sowie beide Großväter von Gorbacev. 4 „Radio Erewan“ war im Volksmund ein Spottsender, an den man Fragen richtete und Antworten bekam. 143

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