Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Erbschaft und Erben - Irina Scherbakowa: Der sowjetische Mensch im postsowjetischen Alltag

Irina Scherbakowa des mittleren Rußland oder im Norden. Auch von den Repressalien war das russi­sche Volk nicht weniger betroffen als andere Völker. Doch trotz aller bestehenden Konflikte zwischen den unterschiedlichen Nationen vereinten vorläufig der Druck von oben sowie die Gewalt, die der Partei- und Staatsapparat immer gegen alle Völker und Nationen ausübte, die zahlreichen Völker der SU. Die Dissidenten, gleich, ob sie aus Rußland, aus der Ukraine oder aus dem Baltikum stammten, kämpften damals noch „für unsere und eure Freiheit“. Mit der Zeit vergrößerte sich jedoch das Mißtrauen gegenüber dem Staatsapparat und selbst der Betrug an demselben fand in den Augen der Bürger der UdSSR zunehmend Akzeptanz. Die sowjetische bürokratische Maschinerie funktionierte so absurd, daß man sie als Verwirklichung der Visionen Franz Kafkas sah. Als Mitte der Sechzigerjahre der erste Band des Schriftstellers in russischer Sprache er­schien,5 wurde aus dem populärsten sowjetischen Marschlied ein Wortspiel. Statt: „Wir sind dazu geboren, um aus dem Märchen (auf russisch „skaska“) Realität zu machen,“ hieß es „Wir sind dazu geboren, um aus Kafka Realität zu machen.“ Bewußt oder auch unbewußt glaubte man Parallelen zur österreichisch-ungarischen Monarchie zu erkennen. Während Kafka primär von russischen Intellektuellen gelesen wurde, sind „Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk“ zur Volkslektü­re geworden. Dennoch schien der unblutige und schnelle Zerfall dieses Imperiums als undenk­bar, was wiederum als eine Folge der totalitären Denkweise, in der immer alles sofort verewigt wurde, zu sehen ist. Als es dann doch passierte, wollte man, ob­wohl sich die Mehrheit der russischen Bevölkerung gegen den Zerfall der Union stellte, einen Krieg vermeiden. Vor diesem hatte man wesentlich größere Angst als vor dem Zerfall des Imperiums. Für die postsowjetischen Menschen war der Krieg in Tschetschenien ein ungewollter Krieg und deshalb nie populär. Damit erwies sich der sowjetische Mensch als viel weniger imperial denkend als man es sich vorgestellt hatte. Alte und neue Feindbilder Das gesellschaftliche Ideal, das man nach der Auflösung anstrebte, kann bis 1993/1994 als eine, auf die russische Situation zugeschnittene Form der Demokra­tie angesehen werden. Doch die Enttäuschung über die Marktreformen, die schwe­re wirtschaftliche Krise, die psychologischen Schwierigkeiten im Umgang mit dem Zerfall der Sowjetunion führten bereits nach wenigen Jahren dazu, daß sich die russische Gesellschaft von den liberal-demokratischen Idealen zu lösen begann. Zudem hatte man sich die Demokratie allzu märchenhaft vorgestellt, wie eine Mo­delleisenbahn aus dem Spielzeugladen, wo alles so schön und niedlich aussieht und nach dem Einschalten reibungslos funktioniert. 5 Kafka, Franz: Jzbrannoje. Moskau 1965. 144

Next

/
Thumbnails
Contents