Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Von der alten zur neuen Ordnung - Jože Pirjevec: Die Sowjetunion 1917 bis 1989

Joze Pirjevec 1964 war Chruschtschow politisch völlig isoliert und konnte problemlos abge­setzt werden. Doch auch die ihm folgende „Trojka“ war unfähig, in dieser schwie­rigen Situation eine politische Lösung zu finden. Dies läßt sich wiederum anschau­lich am Beispiel der Ukraine demonstrieren: 1972 entfernte Breznev dort Pjotr Seiest, den populären Sekretär der KPU, und ersetzte ihn durch Vladimir Vasiljevic Scerbicki, einen Aparatschik, der im Gegensatz zu seinem Vorgänger in der Öf­fentlichkeit nie Ukrainisch gesprochen hatte. Während seiner bis 1988 dauernden Regierungszeit beschleunigte sich die Russifizierung des Landes, was in der lokalen Intelligenzija die seit langem latent vorhandenen Autonomiebestrebungen zusätzlich verstärkte. Die Helsinkiverträge von 1975, mit denen sich die Sowjetunion zum freien Aus­tausch von Menschen und Ideen verpflichtet hatte, bedeuten eine wichtige Zäsur in der allgemeinen Stagnation der Ära Breznevs. Die damit in der Bevölkemng ge­weckten großen Hoffnungen gingen jedoch nicht in Erfüllung. Die Elektrifizierung des Landes und die hohe Alphabethisierungsrate - nach Lenin die zwei wesentli­chen Voraussetzungen des Kommunismus - wirkten sogar als ein Boomerang. Die Sowjetbürger, besser unterrichtet und gebildet als die Untertanen der Zaren, waren imstande, von modernen Kommunikationsmitteln Gebrauch zu machen. So wurde der Einfluß des staatlichen Störsenders „Radio Smolensk“ unterminiert und damit Zugang zu westlichen Medien erlangt. Dies führte zu einer immer breiteren, wenn­gleich auch glorifizierten und von Mythen geprägten Kenntnis des Westens und zugleich zu einer immer größeren Unzufriedenheit mit den eigenen Lebensbedin­gungen. Als Gorbacev nach seiner Wahl zum Generalsekretär der Partei im Jahre 1985 von Perestrojka und Glasnost sprach, reagierte er eigentlich nur noch auf eine außer Kontrolle geratene Entwicklung.13 Die ersten Anzeichen des Zusammenbruches zeigten sich in den Baltischen Re­publiken und in Transkaukasien. Wirklich ernst wurde die Situation jedoch erst im Jahre 1989, als die nationalistische Bewegung - auch unter dem Eindruck der Tschernobyl-Katastrophe — auf die Ukraine Übergriff und die alten Symbole des ukrainischen Staates - der Dreizack, die gelb-blaue Fahne und die Hymne „See ne vmerla Ukraina“ - in der Öffentlichkeit auftauchten. Mit Leonid Kravcuk gelangte 1990 in Kiev ein Politiker an die Macht, der den ukrainischen Nationalismus und die Gegnerschaft der Großrussen geschickt zu nutzen wußte. Nachdem am 24. August 1991 der geplante Staatsstreich in Moskau fehlgeschlagen war, rief das ukrainische Parlament die Selbständigkeit des Landes aus. Am 1. Dezember wurde dieser Schritt durch ein Referendum mit 90 Prozent der abgegebenen Stimmen - darunter befanden sich auch viele Russen, die in der Ukraine lebten - bestätigt. Damit stürzte jene Säule, auf die sich Rußland seit Katharina der Großen zur Auf­rechterhaltung des Reiches gestützt hatte. Erstmals in der neueren Geschichte löste sich ein imperiales staatliches Gebilde auf, ohne daß es auf dem Schlachtfeld ge­13 Po 1 i tièeskaj a I s to r i j a , S. 659. 38

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