Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Von der alten zur neuen Ordnung - Jože Pirjevec: Die Sowjetunion 1917 bis 1989

Joze Pirjevec lution alle Mittel erlaubt wären. Dazu kam der „Belagerungskomplex“, ein Gefühl, daß sich die gesamte Welt gegenüber Rußland verschwört habe und man sich daher hinter den Mauern seiner eigenen Burg verschanzen solle. Von den integrativen Kräften, die an der Entstehung der Sowjetunion entschei­dend mitgewirkt hatten, wurde als erstes die nationale Idee in Frage gestellt. Be­reits während des 8. Kongresses der RKP(b) im Jahre 1919 fand Lenins Vorschlag, das Recht der nichtrussischen Völker - immerhin 57 Prozent der Gesamtbevölke­rung — auf Selbstbestimmung auch im Parteiprogramm zu verankern, keine Zu­stimmung. Aus den Stenogrammen des Kongresses geht hervor, daß sich Nikolaj Bukharin Lenin mit dem Argument widersetzte, die Partei bewege sich in Richtung Diktatur des Proletariats, weshalb das Selbstbestimmungsrecht nur fur die Arbei­terklasse gelten solle.5 Doch solange Lenin die wesentlichen Entscheidungen im Staate und in der Partei beeinflussen konnte, wurden Maßnahmen zur weiteren Emanzipation der nichtrus­sischen Völker getroffen. Der 10. Kongreß der RKP(b) vom 8. bis 16. März 1921, der die Aufgaben der Parteiorgane in Bezug auf die nationale Politik festlegte, erwies sich jedoch als Zäsur für die Nationalitätenpolitik. Der Akzent wurde jetzt nicht mehr auf das Selbstbestimmungsrecht, sondern auf die Gleichheit der Arbei­terklasse der verschiedenen Völker im Rahmen einer gemeinsamen sozialistischen Föderation gesetzt. Das bedeutete auch, daß die russische KP das Recht und die Pflicht hatte, den Klassengenossen der benachbarten Nationen Hilfe zu leisten, sobald diese von der einheimischen Bourgeoisie als gefährdet angesehen wurden. Letztendlich war den Bolschewiken dadurch erlaubt, militärisch zu intervenieren, wo immer sie es für notwendig erachteteten. Doch anfangs war die Lage der nichtrussischen Nationalitäten dennoch nicht un­günstig. Auch wenn man im Föderalismus, wie Stalin es ausdrückte, nur eine Übergangsphase zum „künftigen sozialistischen Unitarismus“ sah, können die ersten Jahre nach der im Dezember 1922 erfolgten Ausrufüng der Union der So­wjetischen Sozialistischen Republiken, also gleichsam der Wiedererstehung des Imperiums, als „goldene Zeit“ für die nichtrussischen Nationalitäten gelten. Die Neue Ökonomische Politik war vor allem auf kulturellem Gebiet mit ethnischen Konzessionen verbunden und sollte dem großrussischen Chauvinismus, vor wel­chem Lenin immer gewarnt hatte, entgegenwirken. Diesen sah Lenin in der neuen Bürokratie des Staates und der Partei gedeihen, ohne dabei aber zu erkennen, daß eine „Diktatur des Proletariats“ diese Auswüchse unausweichlich zur Folge hatte.6 5 P o 1 i t i ces kaj a Istorija Rossii - SSSR - RF. Moskva 1996, II, S. 299. 6 Pachl’ovska, Oksana: La russificazione dell’Ucraina nel Novecento: obiettivi, modalité, risultati. ln: L’Ucraina del XX secolo, ed. by Luca Calvi e Gianfranco Giraudo. Padova 1998, S. 144-145. 34

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