Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Von der alten zur neuen Ordnung - Jože Pirjevec: Die Sowjetunion 1917 bis 1989

Die Sowjetunion 1917 bis 1989 Nach Lenins Tod gerieten solche Warnungen schnell in Vergessenheit. Stalin, ein nationaler Renegat, erhoffte sich vom Festhalten an der imperialen und zentralisti­schen Idee die Stärkung seiner eigenen Macht. Es ist ihm auch gelungen, seine Politik als Verwirklichung des proletarischen Internationalismus darzustellen; viele führende Persönlichkeiten der Partei, insbesondere jüdischer Abstammung, fühlten sich davon angezogen. Anfang der Dreißigerjahre zeigte der neue Kurs vor allem in der Ukraine fatale Auswirkungen. Denn Stalins Kampf gegen die „Kulaken“ muß dort nicht nur als ein brutales Vorgehen gegen den Klassenfeind, sondern auch als Vergewaltigung des ukrainischen Nationalismus und Separatismus gesehen werden. Zwischen drei und sechs Millionen Menschen starben in diesem inneren Krieg, in dem Stalin eine vorsätzliche Hungersnot als besonders grausame Waffe einsetzte. Diese hat im ukrainischen Volk tiefe Wunden hinterlassen und ist im historischen Gedächtnis unauslöschlich verhaftet geblieben. „Die Folgen dieser großen Tragödie sind noch heute - vor allem in psychologischer und demographischer Hinsicht - zu spüren. Sie warf einen schwarzen Schatten auf den Sieg des sowjetischen Systems und auf die Methoden, mit denen er erreicht wurde“, schreibt der Historiker Subtelni.7 Die Ukraine ist daher bereits in den Dreißigerjahren eine der wesentlichsten desinte- grativen Elemente des sowjetischen Reiches. Die von Stalin erreichte Machtkonzentration wurde im Namen einer raschen In­dustrialisierung und Elektrifizierung des Staates brutal und ohne die geringste Rücksichtnahme auf die ethnische Vielfalt der Sowjetunion durchgesetzt. Das rus­sische Volk, dessen Kirche, die traditionelle Hüterin des nationalen Bewußtseins, fast völlig zerstört wurde, hatte am stalinistischen Terror schwer zu leiden. Noch schlimmer davon betroffen waren die nichtslawischen ethnischen Gruppen der Union, vor allem die Moslems in Zentralasien, des Wolga-Gebietes und des Kauka­sus. Da die traditionelle arabische Schrift verboten und durch die lateinisch­türkische, später durch die kyrillische ersetzt wurde, sahen sie sich nicht nur ihrer Religion, sondern auch wesentlicher Bestandteile ihrer kulturellen Identität be­raubt. Dazu kam eine fast totale Abschirmung von der Außenwelt, zunehmender Haß auf alles Fremde, wobei die im Volk vorhandenen Erinnerungen an die westli­che Militärintervention zur Zeit des Bürgerkrieges als abschreckendes Argument instrumentalisiert wurden.8 Die Zwangskollektivierung des Landes, die gewaltsame Durchsetzung einer eth­nischen Politik und der stalinistische Terror der Dreißigerjahre hatten eine desinte- grative Wirkung. Und dennoch überlebte die Sowjetunion den furchtbaren „Dolchstoß“, den ihr Hitler am 21. Juni 1941 versetzte. Dies ist unter anderem auch auf die geschickte Politik Stalins und die ungeschickte Haltung seines Gegners 7 Subtelni, Orest: Ukaina. lstorija. Kijev 1994, S. 521. 8 N o v e, Alec: Stalinism and After. London 1981, S. 35-40. 35

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