Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Von der alten zur neuen Ordnung - Jože Pirjevec: Die Sowjetunion 1917 bis 1989

Die Sowjetunion 1917 bis 1989 Tag ihre Diskussion fortsetzen wollten, standen sie vor den geschlossenen Türen des Palastes.' Diese berühmte Episode ist in zweierlei Hinsicht bezeichnend: Sie demonstriert einerseits, daß die Bolschewiken zumindest bezüglich der Nationalitätenfrage neue Ideen vertraten, andererseits aber auch bereit waren, sie mit allen Mitteln und ohne Rücksicht auf die Regeln der Demokratie durchzusetzen. Aufgrund der politischen Situation erwies sich der erste Aspekt damals als vordringlicher als der zweite: Die Russische Sozialistische Föderative Republik kontrollierte Ende 1918 ein Gebiet mit rund 60 Millionen Menschen, das flächenmäßig aber nicht größer war als das mittelalterliche Moskowien. In Sibirien sowie im kaukasischen und baltischen Raum versuchten die Generäle Kolcak, Denikin, Wrangel und Judenic mit Hilfe ausländischer Kräfte, die Gegenrevolution zu organisieren, um die Macht der Bol­schewiken in Moskau zu stürzen. Dabei zeigten sie keinerlei Rücksichtnahme auf die nationalen Bestrebungen der unterdrückten Volker, wodurch diese wiederum entgegen ihren sozialen Interessen den „Roten“ größere Sympathien entgegen­brachten als den „Weißen“. Dies demonstrierte besonders deutlich General Anton Ivanovic Denikin, der sogar die Existenz der Ukraine verneinte, indem er immer nur vom „russischen Süden“ sprach. Damit verlor er jede Unterstützung seitens der ukrainischen Nationalisten und konnte selbst durch die Intervention der Entente nicht gerettet werden. Auch der Anführer der Gegenrevolution im baltischen Raum, General Nikolaj Nikolajevic Judenic, war taub gegenüber den lokalen Un­abhängigkeitsbestrebungen. Als er im Herbst 1919 einen Marsch auf Petersburg unternahm, entsagten ihm die Esten ihre Unterstützung.3 4 Neben der Bauern- und Nationalitätenfrage - so wie sie die Bolschewiken zwi­schen 1917 und 1919 propagierten - erwies sich in den ersten Jahren nach der Revolution auch die in allen Gubemien des Reiches lebende russische Ethnizität als zentripetale Kraft. Die Tatsache, daß russische Gegenrevolutionäre und nichtrussi­sche Separatisten zur Durchsetzung ihrer Ziele sich mit fremden Truppen verban­den, diskreditierte sie in den Augen der großrussischen öffentlichen Meinung und stärkte sowohl deren Patriotismus als auch das Verlangen nach einer kräftigen, zentralistischen Macht, von der erwartet wurde, daß sie der allgemeinen Anarchie entgegen wirken könne. 15 Millionen Menschen kamen im Bürgerkrieg um, zwei Millionen - überwiegend Angehörige der Intelligenz - wurden ins Exil getrieben. Für das neue Regime erwies sich das als ein sehr harter Schlag; doch noch verhängnisvoller wirkte sich sein äußerst brutales Vorgehen gegenüber der Opposition aus, das da­mit gerechtfertigt wurde, daß für die Vollendung der „heiligen Sache“ einer Revo­3 H os king, Geoffrey: A History of the Soviet Union. London 1985, S. 55; Rupnik, Anton: Tretji Rim. Rusija, vceraj in danes, Manuskript. 4 Hosking: A History, S. 65-66. 33

Next

/
Thumbnails
Contents