Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)
Von der alten zur neuen Ordnung - Jože Pirjevec: Die Sowjetunion 1917 bis 1989
Joze Pirjevec Als zweites wesentliches Moment für den Ausbruch der Revolution in Rußland muß die im Laufe des 18. und 19. Jahrhunderts aufgebrochene Nationalitätenfrage angesehen werden. Das Russische Reich war seit jeher ein Vielvölkerstaat und seine ethnische Vielfalt wurde durch die Eroberung des Kaukasus sowie von Transkaukasien, von Finnland, Bessarabien, Teilen von Polen und später von zentralasiatischen Fürstentümern noch vergrößert. Die zaristische Bürokratie, die dieser ethnischen Komplexität keineswegs gewachsen war, versuchte, das Reich so schnell wie möglich zu russifizieren und unter die Oberhoheit der orthodoxen Kirche zu zwingen. Auch die soziale und nationale Unzufriedenheit der breiten Massen konnte nur mit Hilfe brutaler Gewalt in Schach gehalten werden. Als dann der Erste Weltkrieg mit seinen großen politischen und ökonomischen Umwälzungen das morsche Gebilde des Zarenreiches ins Wanken brachte, führte die allgemeine Unzufriedenheit zu einer gewaltigen Explosion. Den Bolschewiken gelang es als einziger Partei, aus dieser Situation Nutzen zu ziehen. Ihren Erfolg hatte sie dabei zu einem großen Teil dem Pragmatismus Lenins zu verdanken. Dieser erkannte, daß die Bolschewiken nicht nur das Proletariat, sondern auch die Bauern als „revolutionäre Kraft“ betrachten mußten. Unter Lenins Einfluß erließ der zweite Kongreß der Sowjets am 26. Oktober 1917-nur einen Tag nach der Eroberung des Winterpalastes - zusätzlich zum „Dekret über den Frieden“ das „Dekret über die Verteilung des Landes“. Dieses Dekret entsprach ganz dem Sinne der Agrarreform, wie sie die Esseren, die traditionelle Bauernpartei, forderte.2 Auch der nächste Schritt Lenins erwies sich als äußerst geschickt: Am 2. November 1917 erließ seine provisorische Regierung eine „Deklaration über die Rechte der Völker Rußlands“, welche diesen nicht nur Gleichheit und Souveränität, sondern auch das Selbstbestimmungsrecht in Aussicht stellte. Mit solchen Vorstellungen blieben die Bolschewiken aber isoliert. Das zeigte sich bereits am 5. Jänner 1918, als im Verlaufe der ersten Sitzung der Konstituierenden Versammlung den Abgeordneten eine Deklaration vorgelegt wurde, die im ersten Artikel eine sowjetische Republik und im zweiten eine Föderation proklamierte: „Die Sowjetische Russische Republik wird als freier Bund freier Völker, als eine Föderation der nationalen sowjetischen Republiken gebildet.“ Nach einer ganztägigen ergebnislosen Debatte lehnte die Mehrheit der Abgeordneten dann gegen Mitternacht diese ab. Die Bolschewiken verließen daraufhin aus Protest den Verhandlungssaal des Taurischen Palastes. Einige Stunden später marschierte der Gamisonshauptmann, der Matrose Zeleznjak, in den Saal und erklärte, er sei beauftragt worden, die Sitzung zu schließen, da die „Wache müde sei“. Als die Abgeordneten am nächsten 2 G raz io s i, Andrea: La grande guerra contadina in URSS. Bolscevichi e contadini 1918 to 1933. Napoli 1998, S. 25; C i n n e 11 a , Ettore: The Tragedy of the Russian Revolution. Promise and Default of the Left Socialist Revolutionaries in 1918. ln: Cahiers du monde russe 38, nr. 1-2 (janvier-juin 1997), S. 53. 32