Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)
Von der alten zur neuen Ordnung - Jože Pirjevec: Die Sowjetunion 1917 bis 1989
DIE SOWJETUNION 1917 bis 1989 VON JOZE PlRJEVEC Im April 1946, als die Beziehungen zwischen Tito und Stalin noch ungetrübt waren, reisten jugoslawische Intellektuelle nach Moskau, um das Land des Sozialismus zu besichtigen. Auch zwei Slowenen, der Christlichsoziale Edvard Kocbek und der Liberale Josip Vidmar, gehörten der Delegation an. Obwohl keine Kommunisten, hatten beide im slowenischen Befreiungskampf eine wichtige Rolle gespielt und brachten auch der Sowjetunion großen Enthusiasmus entgegen. Dennoch betrachteten sie das Land mit kritischen Augen, ohne die Schattenseiten des sowjetischen Alltages zu übersehen. Ihre, in Kocbeks Tagebüchern übermittelten Bemerkungen gipfelten in Vidmars Feststellung, daß die Revolution in Rußland doch ein „Profeta extra patriam“ sei.' In seiner „Voltairianischen Rationalitat“ war Vidmar zu scharfsinnig, um nicht den Verdacht zu erwecken, daß er gleichzeitig den Satz „Nemo propheta in patria“ im Kopf hatte und eigentlich sagen wollte, eine Revolution sei weder im Osten noch im Westen möglich. Doch diese Episode ist nur eine Randbemerkung. Hier soll analysiert werden, warum eine große messianische Utopie gerade in Rußland Wurzeln fassen konnte und warum das durch die Revolution bestätigte mächtige sowjetische Reich vor nunmehr knapp einem Jahrzehnt zerfallen ist. Die Antwort auf diese Fragen müssen in der Geschichte Rußlands gesucht werden, wobei zwei Momente wesentlich sind: die gescheiterte Modernisierung und Europäisierung sowie die Problematik der Nationalitätenfrage. Anfang des 18. Jahrhunderts versuchte Peter der Große in Rußland eine Europäisierung und Modernisierung einzuleiten. Doch seine Nachfolger konnten das Werk nicht vollenden. Katharina die Große scheiterte daran, da sie durch eine Palastverschwörung zur Alleinherrscherin wurde und daher die Privilegien der Adeligen - besonders in der „Bauemfrage“ - nicht einschränken konnte. Die überwiegende Mehrheit des russischen Volkes blieb daher noch lange in erniedrigender Leibeigenschaft. Doch auch nach der Befreiung der Bauern im Jahre 1861 verbesserten sich ihre Lebensbedingungen kaum. Die meisten Bauern lebten weiter in den sogenannten „obsciny“, hatten also kein eigenes Land und fast keine Möglichkeit einer freien Mobilität. 1 1 Koc bek , Edvard: Dnevnik, 1946, Bd. 1. Ljubljana 1991, S. 155. 31