Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)
Von der alten zur neuen Ordnung - Hanns Haas: Das Ende der Habsburgermonarchie
Hanns Haas nicht minder repräsentative Jugendstil ablöste.15 Solche Prägungen kennzeichnen selbst die urbanistischen Konzeptionen. Stilgebend für ein ganzes Reich war die Wiener Ringstraße mit ihren großen Verwaltungsbauten, dem Parlament und dem Wiener Rathaus, den Theatern, der Börse und nur wenigen Adelspalais, und vor allem dem freilich Torso gebliebenen Kaiserforum. Im Kleinen wiederholten die Mittelstädte und zuletzt die Kleinstädte diese urbanistische Lösung in ermüdenden Kopien. Doch gerade dieses Repetitive entsprach dem Bedürfnis nach Geborgenheit einer in Wahrheit rasant sich ändernden Welt, in welcher Millionen Menschen auf dem Wege waren, vom Land in die Stadt, von Ost nach West, insbesondere in die anwachsenden Metropolen Wien und Budapest, von Europa nach Übersee, vom Bauern zum Arbeiter, vom Handwerker zum Angestellten, vom „Lumpenproletariat“ zum honetten Arbeiter, vom Unternehmer zum Industriellen, von einer Nation zur anderen. Alle diese Bevölkerungsströme orientieren sich an praktischen Notwendigkeiten, nicht an der nationalen Separationslogik des zeitgenössischen Nationalismus. Auf der Suche nach besseren Lebenschancen wanderten die galizischen Juden und die mährischen Tschechen in die Reichshauptstadt und verwandelten Italiener, Slowenen, Deutsche, Slawen und Griechen Triest in eine multinationale Stadt. Nicht alleine wirtschaftliche Faktoren erforderten diese nie gekannte Mobilität, sondern der Staat selbst erweiterte durch die Schule die Wissenshorizonte und durch die allgemeine Wehrpflicht die zeitweise Herauslösung aus den gewohnten dörflich-agrarisch-kleinstädtischen Lebenszusammenhängen, und er synchronisierte damit nicht nur die Lebensläufe, sondern standardisierte durch Rechtssystem, Verwaltung, Steuerwesen usf. die Bedingungen für den Lebensvollzug der Millionen Untertanen. Auf diese Weise bildete der Habsburgerstaat somit den äußeren Rahmen einer gegen innen vielfach geschichtenen Lebenswelt und es steht außer Zweifel, daß diese schwarzgelbe Wahmehmungswelt auch bewußtseinsprägend wirkte, daß Alltagsnotwendigkeit, kulturelle Standardisierung und habituelle Annäherung beinahe unreflektiert ein Wir-Gefühl erzeugten, ein Gefühl von Verbundensein, von Zusammengehören, in einem zumeist nonverbalen Verständigungsprozeß. Die großen Worte und Kulte waren diesem leidenschaftslosen Staatspatriotismus fern. Über Jahrzehnte wurden zu Kaisers Geburtstag die gleichen blutleeren Reden gehalten. Die verbrauchten Formeln entstammten der deutschen und österreichischen Klassik, etwa Schiller und Grillparzer: „Der Österreicher hat ein Vaterland und hat auch Ursach, es zu lieben“ (Schiller). Kaisers Geburtstag fiel auf den 18. August, und er wurde überall im Privaten und Kleinen gefeiert, in den Familien, auf Gartenfesten, bei den Feiern der Landgemeinden. Die Träger dieses intimen, 15 Vgl. dazu Haas, Hanns -Stekl, Hannes (Hrsg.): Bürgerliche Selbstdarstellung. Städtebau, Architektur, Denkmäler. Wien-Köln-Weimar 1995 (Bürgertum in der Habsburgermonarchie 4). 22