Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)
Von der alten zur neuen Ordnung - Hanns Haas: Das Ende der Habsburgermonarchie
Das Ende der Habsburgermonarchie Ära der Nationalstaaten hineinreichte, und nicht, warum seine Krisen in den Untergang mündeten. Zu fragen ist also in erster Linie nach den integrativen Kräften des Habsburgerstaates, welche bis zum Strukturbruch des Ersten Weltkrieges dem egalitär-demokratischen Nationalismus standhielten. Daß wir die ganze letzte Periode des Staates als ffanzisko-josefinisches Zeitalter bezeichnen, hat gewiß seinen Sinn. Der Monarch selbst, nicht die Dynastie, bildete damals den Mittelpunkt der Staatsgesinnung, als Kaiser eines imaginären Reiches, als König von Ungarn, von Böhmen und Galizien-Lodomerien und allen anderen Ländern als Landesherr in seinen verschiedenen ererbten Titeln, zuletzt gar noch dem fernen Jerusalem als König, als Erinnerung an die Kreuzfahrerzeit. Patriotismus war im alten Österreich-Ungarn wörtlich zu nehmen, als Bindung an den väterlichen Kaiser, der in der stets beschworenen Dreieinigkeit „Gott, Kaiser und Vaterland“, die Mitte bildete. Unzählige Bilder in Schulen und Ämtern, Münzen und Briefmarken reanimierten diese kindliche Anhänglichkeit an den durch Jahrzehnte seltsam unveränderten Monarchen - den martialischen Bart ließ schon den Jugendlichen erwachsen und später den Greis unverändert wirken. Gnadengaben bewiesen des Kaisers und Königs Anteilnahme an Leiden und Freuden der Untertanen; den Kaiser zu sehen gehörte zur Sehnsucht aller Wienbesucher; Audienzen waren den geistlichen Würdenträger, allen höheren Beamten und den hohen Militärs Vorbehalten; die nicht seltenen Reisen gewährte auch der entferntesten Provinz die kaiserliche Nähe. Im analytischen Zugriff lassen sich dabei zwei Mythen voneinander lösen, und zwar die im engeren Sinne patriotisch-landesväterliche Form, welche die „gütige, fürsorgliche, zugängliche Vaterfigur“ des Herrschers in errreichbare Nähe rückte, sowie den imperialen Herrscher mit seinen geschichtlich, nicht persönlich geformten Eigenschaften der Größe, Unantastbarkeit und Vollkommenheit.1 Die Grundlage bildete in beiden Fällen die Idee vom Herrscher als Statthalter Gottes, welchem der Gott gebührende Gehorsam zustand, da jede rechtliche Herrschaft von Gott stamme. Nach beiden Richtungen diente also der Kaisermythos der Legitimation des monarchischen Prinzips.* Jedoch auch Spuren älterer Überlieferungen sind im Mythos zu erkennen, wenn selbst die Verfassung die Person des Kaisers als „geheiligt“ bezeichnete und damit Assoziationen an das Königsheil aufkommen ließ, welches den Kaiser mit numinosen Kräften ausstattete, wenn auch in Westeuropa die Sphären des Weltlichen und Spirituellen sonst 7 8 7 B1 ö c h 1, Andrea Gerlinde: Der Kaisermythos. Die Erzeugung des Mythos „Kaiser Franz Joseph“ - eine Untersuchung auf der Basis von Texten und Bildmaterial aus der Zeit Kaiser Franz Josephs. Geisteswissenschaftliche Diplomarbeit. Salzburg 1993, S. 1; dazu Haas, Hanns: Staats- und Landesbewußtsein in der Ersten Republik. In: Handbuch des politischen Systems der Ersten Republik 1918-1933, hrsg. von Emmerich Talos, Herbert Dachs, Emst Hanisch und Anton Staudinger. Wien 1996, S. 472-487, hier S. 472-474. 8 Brunner, Otto: Vom Gottesgnadentum zum Monarchischen Prinzip, ln: Neue Wege der Verfas- sungs- und Sozialgeschichte. 2. Aufl. Göttingen 1968, S. 160-186. 19