Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Von der alten zur neuen Ordnung - Hanns Haas: Das Ende der Habsburgermonarchie

Hanns Haas burgerstaat ein „Dasein von ungewöhnlicher Milde“, schrieb der österreichische kommunistische Historiker und Literaturwissenschafter Albert Fuchs in seiner englischen Emigration.2 Als das „goldene Zeitalter der Sicherheit“ charakterisierte Stefan Zweig diese „Welt von Gestern“.3 Zum Sinnbild von anspruchsloser Ord­nung wurde dem tschechischen Literaten Bohumil Hrabal die österreichische Herr­schaft angesichts der Erfahrungen der deutschen Okkupation.4 Die ganze neuere österreichische Literatur war vom „habsburgischen Mythos“ beherrscht, welcher das Zusammenleben der vielen Völker, Kulturen und Religionen im habsburgi­schen Großstaat verklärte.5 In eigener Variante kultivierte die ungarische und kroa­tische Literatur die Erinnerung an vergangene Größe im Vielvölkerstaat. Selbst in regionaler Perspektive gewann das verlorene Multikulturelle am Beispiel von Tri­est, Prag und Czemowitz jetzt Vorbildcharakter. Vor allem der .jüdischen Überle­bensgeneration“ wurde der Habsburgerstaat zur letzten Heimstatt ihres euro­päischen Zeitalters vor Holocaust und Exodus. Weil ihre enge Bindung an Europa so jäh abgebrochen wurde, ist die jüdische Erinnerung zu einem aufmerksamen und korrekten Traditionsträger habsburgischer Geschichtsüberlieferung geworden. Immer wieder belieferte seither die habsburgische Nostalgie die politischen Dis­kurse „Mitteleuropas“, wenn sie auch aktuell durch den westeuropäischen Schwer­punkt der europäischen Integrationsbewegung überlagert wird. Zuletzt verortete der geschichtswissenschaftliche Diskurs das Wiener fin de siècle als eine Denk­werkstatt der Moderne in den größeren Zusammenhängen einer kulturgeschichtli­chen Transformation, welche alle relevanten und humanen Bereiche, soziale, reli­giöse und sogar geschlechtliche Identität erfaßte.6 Der Befund über den Habsburgerstaat fallt nach diesen widersprüchlichen Sicht­weisen nicht leicht. Wir sind vorsichtig geworden mit den groben Deutungen, die den Erfolgreichen geschichtliche Notwendigkeit attestieren und daher im Habsbur­gerstaat überall Vorboten des Zerfalls finden, während die Zeitgenossen zumeist ihr ruhiges alltägliches Leben in unreflektierter Zuversicht über den Fortbestand der alten Ordnung lebten. Rückblickend wird man wohl eher die Frage stellen, warum dieser Habsburgerstaat als Relikt vormodemer Staatsbildung so lange in die 2 Fuchs, Albert: Geistige Strömungen in Österreich 1867-1918. Neudruck der Ausgabe 1949 mit einer Einführung von Georg Knepler. Wien 1978, S. VII f. 3 Zweig, Stefan: Die Welt von Gestern. Erinnerungen eines Europäers. Frankfurt Main 1976, S. 14. 4 Hrabal, Bohumil: Zuglauf überwacht. Frankfurt am Main 1968. 5 M agris, Claudio: Der habsburgische Mythos in der österreichischen Literatur. Salzburg 1966; vgl. dazu beispielsweise Torberg, Friedrich: Die Tante Jolesch oder der Untergang des Abend­landes in Anekdoten. München 1977; Doderer, Heimito von: Die Strudelhofstiege. Bde. 1-2, München 1967. 6 Le Rider, Jacques: Modernité viennoise et crises de l’identité. Paris 1990; Schmelztiegel Wien - einst und jetzt. Zur Geschichte und Gegenwart von Zuwanderung von Minderheiten. Kommentare von Michael John und Albert Lichtblau. Wien 1990. 18

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