Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Vorwort / Einleitung

Einleitung allmählich institutionell umklammerte. Nicht zuletzt beschleunigten diese Staatsintegration gemeinsame Außeninteressen, wenn man so will Sicherheitsinter­essen, beispielsweise die Gegnerschaft zwischen dem christlichen Ostmitteleuropa und dem Osmanischen Reich. Nicht einmal die Mitwirkung ständischer Körper­schaften an der Staatsbildung fehlt völlig in der Frühzeit des habsburgischen Groß­reiches, wenn sie auch im absolutistischen Vollziehungsschritt wieder beseitigt wurde. Damit wird erneut das Problem der demokratischen Verankerung und inneren Legitimation angesprochen. Die Großreiche sind zuletzt mangels innerer Glaub­würdigkeit zerbrochen, die verbindende Ideologie erwies sich als brüchig, eine neue Klammer kam nicht zustande. Menno Spiering widmet sich der aktuellen Parallele der Europäischen Union, die gleichfalls um eine legitimatorische Absicherung bemüht ist und um eine gemein­same Identität ringt. Das Szenario künftiger Entwicklung umfaßt drei Varianten: die Dauerhaftigkeit der bestehenden nationalen Bindungen trotz europäischer Eini­gung, die Ersetzung der nationalen Identität durch eine europäische Identität sowie Formen der Koexistenz zwischen diesen beiden Orientierungen. Vorerst spricht tatsächlich alles für die Persistenz des Nationalen, nicht zuletzt, weil Gewaltan­wendung zur Durchsetzung einer Einheitsbindung auszuschließen ist. Dennoch sollte man nicht bloß an manifeste, sondern auch an strukturelle Gewalt denken, die in vielen Vergleichsbeispielen tatsächlich die nationale Einigung und Identität erzwang. Wieder wäre an die große Bedeutung einer Vermittlungssprache zu den­ken, welche allmählich die Kompetenzen der übrigen Sprachen einschränkte und zuletzt die ihnen bzw. ihrem Kulturkreis zugewandte emotionale Bindung entfrem­dete. In dieser Perspektive wäre gewiß eine europäische Identität als Folge einer durchaus nicht zwangsfreien kulturellen Assimilation denkbar. Eine weitere Parallele zwischen historischen und aktuellen Problemlagen ergibt sich aus dem Themenkreis der Friedenssicherung im europäischen Maßstab. Die übernationalen Reiche waren trotz aller innerer Instabilität und direkter wie indi­rekter Zwangsausübung dennoch Friedenszonen von großer territorialer Reichwei­te. In ihrer Sorge um den inneren Zusammenhalt bzw. die Sicherung ihrer als exi­stentiell notwendig betrachteten Vorfeldzonen waren sie immerhin berechenbare Subjekte der Staatengemeinschaft im Sinne der Erhaltung des Status quo. Ihr Zer­fall bedeutete damit einerseits die Entstehung eines Machtvakuums mit großen inneren Spannungen und andererseits die Auflösung des eingespielten internatio­nalen Systems zur Erhaltung des Friedens. Beide Facetten der Destabilisierung, die inneren Unruhen und das Machtvakuum wurden in der Zwischenkriegszeit von den angrenzenden Mächten zur Ausdehnung ihrer Macht und zur Vorbereitung des Krieges mißbraucht. Nicht zuletzt wurde das innenpolitisch instabile Österreich zum Spielball dieser divergenten Interessen. 15

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