Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)
Vorwort / Einleitung
Hanns Haas scheiterten die Großreiche genau an jener Frage nach der Verbindlichkeit einer allgemein gültigen Verständigungssprache, welche heute in der Diskussion um die Verhandlungssprachen der Europäischen Union aktualisiert wird. Wir kennen diese Diskussion sowohl aus dem Habsburgerstaat wie auch aus dem (sowjetischen) Rußland, ob Deutsch respektive Russisch einen bevorrechteten Platz unter den vielen Nationalsprachen zur multinationalen Kommunikation erhalten sollte. Schon damals stellte sich diese Frage nicht nur aus dem Herrschaftswillen einer Nation, sondern zugleich aus rein „praktischen Notwendigkeiten“ und sie führte dennoch zu einem sozialen und politischen Gefalle zwischen den einzelnen Sprachen durch Privilegierung der „großen“ im ganzen Reich verbindlichen Sprachen auf Kosten der kleinen, nur in ihrem Territorium geltenden Sprachen. So war nicht zufällig das Deutsche in allen cisleithanischen Kronländem eine „landesübliche“ Sprache mit allen daraus resultierenden Vorteilen im amtlichen Verkehr und im Schulunterricht, während die anderen Sprachen nur in ihren gewissermaßen angestammten Ländern landesüblich waren und vergeblich in ihren Zuwanderungsländem diesen Status anstrebten. Ganz gleich war im sowjetrussischen Beispiel das Russische in allen Unionsrepubliken zugleich Administrativsprache, die anderen großen und kleinen Sprachen nur in ihren Republiken und autonomen Gebieten unterschiedlicher Größenordnung. In ähnlicher Weise wird heute das Englische als übernational verbindliche Umgangs- und Administrativsprache unvermeidlich die Zuständigkeit der anderen Sprachen einengen. Auf dieses problematische Nebeneinander der Sprachen unterschiedlichen sozialen Gewichts macht vor allem Menno Spiering aufmerksam. Erneut besteht daher die Gefahr der kulturellen Marginalisierung von „Randgruppen“ und ihrer kulturellen Resistenz gegen eine sonst wirtschaftlich vielleicht erfolgreiche Integration. Auf dieser Abstraktionsebene, nicht als bloßer Analogieschluß, bietet das Scheitern der Großstaaten Anschauungsmaterial für aktuelle Fragen. Als weitere Parallele ist die Entstehung von Minderheitenproblem aufgrund von Wirtschaftsimmigration zu nennen. Ist nun die Europäische Union tatsächlich auf dem Weg zum „Großreich“? Keine Frage, sie übernimmt tatsächlich nicht nur vermittelnde, sondern steuernde Agenden mit verbindlicher Wirkung für alle Mitgliedsstaaten und in diesem Ausmaße reduziert sie die einzelstaatliche Souveränität. Manfred Rotter sieht außerdem in der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ Ansätze zum „staatsähnlichen Agieren“ eines Bundesstaates, nicht bloß eines Staatenbundes. Es wäre reizvoll, historische Parallelen dieser schrittweisen Integration im Zusammenwachsen einzelner Länder und Herrschaftstitel seit dem 16. Jahrhundert zum habsburgischen, zarististischen und osmanischen Großstaat aufzuspüren. Tatsächlich verdankten auch diese Großstaaten ihr Dasein nicht bloß dem absolutistischen Herrschaftswillen von Dynasten und Dynastien, sondern nicht minder einer wie immer geglückten Staatsintegration, welche die ererbten Bruchstücke 14