Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Vorwort / Einleitung

Hanns Haas resultierte beispielsweise die Kooperationsfahigkeit zwischen dem Österreicher Friedrich Engel-Janosi und seinen italienischen Historikerkollegen. Nicht minder wichtig war der Einfluß der von europäischen Emigranten getragene US- amerikanischen Forschung, welche die Habsburgermonarchie als einen Modellfall für eine supranationale Staatsbildung behandelte. In gewisser Weise traf sich diese von Robert A. Kann,7 R. John Rath und Hans Kohn repräsentierte Forschung mit einer um Hugo Hantsch und Heinrich Benedikt gruppierten zeitgenössischen öster­reichischen historiographischen Strömung, welche gleichfalls die Habsburger­monarchie als „Problem des übernationalen Staates“ der engen nationalstaatlichen Zergliederung Europas gegenüberstellte.8 Aus diesen Initiativen sind mehrere um­fangreiche wissenschaftliche Vorhaben wie die Gesamtdarstellung „Die Habsbur­germonarchie“ und die Edition der gemeinsamen und der österreichischen Mini­sterratsprotokolle hervorgegangen. Einen dritten Impetus erfuhr die Aufarbeitung der Habsburgermonarchie schließlich durch die innenpolitische Reformbewegung in den „realsozialistischen“ Ländern, vor allem in der Tschechoslowakei. Intellektuelle Kontroversen erhielten damals eine eminente politische Breitenwirkung, gewiß in erster Linie die Kontro­verse um Franz Kafka, in nächster Hinsicht jedoch auch der Diskurs um den Cha­rakter der Habsburgermonarchie als letzter gemeinsamer Geschichtsperiode der Donauländer. Da stand nun erneut eine ganze große Geschichtsperiode zur Diskus­sion und intellektuellen Disposition, und aus Anlaß der fünfzigjährigen Wiederkehr der Russischen Oktoberrevolution noch dazu unter der politisch brisanten Frage­stellung, ob der Zerfall der Habsburgermonarchie und die Entstehung der National­staaten als eine Folge der russischen Entwicklung oder der vom amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson proklamierten Selbstbestimmung der Völker zu bewerten sei. Die Jahrestage erforderten die Reflexion. Die Erinnerung an den hundert Jahre zurückliegenden österreichisch-ungarischen Ausgleich brachte auf einer Tagung in Preßburg/Bratislava die ganze Bandbreite der Interpretationsmög­lichkeiten in West und Ost, in allen Nachfolgestaaten, in den USA, der Sowjetuni­on und der Bundesrepublik Deutschland zum Ausdruck - Dokument einer im Ost­block bis dahin undenkbaren geistigen Vielfalt, aber auch Zeichen einer geistigen Verständigungsbereitschaft über alle Grenzen hinweg.9 Damals fand auch das schon einige Jahre zurückliegende Werk des slowenischen Historikers Franci Zwitter über die nationalen Probleme der Habsburgermonarchie erneut intematio­7 Kann, Robert A.: Werden und Zerfall des Habsburgerreiches. Graz-Wien-Köln 1962. 8 Die Habsburgermonarchie 1848-1918. Band I. Die wirtschaftliche Entwicklung. Wien 1973, Einleitung von Adam Wandruszka, S. XII-XIX. 9 Der österreichisch-ungarische Ausgleich 1867. Materialien (Referate und Diskussion) der inter­nationalen Konferenz in Bratislava 18.8.- 1.9.1967. Bearbeitet von Anton Vantuch und L’udovit Holotik. Bratislava 1971. 12

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