Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Vorwort / Einleitung

Einleitung Tschechen, an das Niveau der Deutschen heranführte. Noch mitten im Kriege blickte beispielsweise der tschechische Historiker Josef Pekär mit Stolz auf die verflossenen sechzig Jahre tschechischer Emanzipation unter dem milden Regime Kaiser Franz Josephs. Der Kriegsabsolutismus stellte die Loyalität der Nichtdeut­schen auf eine allzu harte Probe. Vor allem jedoch erforderte die nationalpolitische Profilierung nach 1918 eine scharfe Zäsur vom so lange erduldeten, ja mitgetrage­nen Staat. „Dem Sturz des Doppeladlers folgten Hohn und Spott und Fluch.“4 5 „Entösterreichem“, im Sinne der Abkehr vom prinzipienlosem Paktieren und un­moralischem Anpassen, so lautete das tagespolitische Schlagwort der tschechischen Innen- und Gesellschaftspolitik der Zwanzigerjahre. Auf österreichischer Seite wiederum fehlte es nicht an Stimmen gegen die slawischen Nationen als „Totengräber der Monarchie“ oder gar als „Anstifter ZUm Weltkrieg“. Entspre­chend einseitig sind viele Memoiren und politische Rechenschaftsberichte der er­sten Nachkriegszeit. Doch die Geschichtsaufarbeitung kam bald in ein ruhigeres Fahrwasser. Schon zum Rückblick auf zehn Jahre Unabhängigkeit schrieb der tschechische Historiker Jan Opocenskÿ sein bis heute nicht übertroffenes Buch zum Zerfall Österreich-Ungams.' Parallelen kritischer Geschichtsaufarbeitung bieten beispielsweise auf österreichischer Seite Joseph Redlich und Otto Bauer, auf unga­rischer Oskar Jaszi.6 Die Dreißigerjahre brachten in der Beurteilung der Habsburgermonarchie wieder nationale Gesichtspunkte zur Geltung, und in gleicher Weise überlagerte der Kalte Krieg nach 1945 die vorurteilslose Bestandsaufnahme. Jetzt erst beherrschte das Schlagwort vom „Völkerkerker“ die östliche Version der Geschichtsaufarbeitung, begleitet auf westlicher Seite von „ostmitteleuropäischen Konzeptionen“ in Analo­gie zum Konzept des politischen Roll back. Auch Traditionen deutscher „Ostforschung“ im Sinne einer Betonung deutscher Kulturleistung im Südosten flössen in die Beurteilung der Habsburgermonarchie ein. Erst die Sechzigerjahre brachten aus unterschiedlichen Gründen neue Akzente ins Bild der Habsburger­monarchie. Da ist auf der einen Seite die läuternde Wirkung einer fünfzigjährigen Distanz zu nennen, welche den Blick der Zeitzeugen auf ihre Jugendphase ver­klärte und die vom Nationalismus bekehrten nachfolgenden Jungen zu einer kriti­schen Bestandsaufnahme ermunterte. Aus diesem Sentiment gleicher Erfahrung 4 Plaschka, Georg Richard: Von Palackÿ bis Pekär. Geschichtswissenschaft und Nationalbe­wußtsein bei den Tschechen. Graz-Köln 1955 (Wiener Archiv für Geschichte des Slawentums und Osteuropas 1 ), S. 83. 5 Opocenskÿ, Jan: Umsturz in Mitteleuropa. Der Zusammenbruch Österreich-Ungams und die Geburt der Kleinen Entente. Hellerau bei Dresden 1931. 6 Redlich, Joseph: Österreichische Regierung und Verwaltung im Kriege. Wien 1925. (Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Weltkrieges. Österreichische und ungarische Serie); Bauer, Otto: Die österreichische Revolution. Wien 1923; Jaszi, Oskar: Magyariens Schuld. Ungarns Sühne. Revolution und Konterrevolution in Ungarn. München 1923. 11

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