Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Vorwort / Einleitung

Einleitung blieben jedoch trotz partieller Integrationserfolge politisch eigentümlich starr, so daß jeder Demokratisierungsschritt die Staatslegitimität gefährdete. Der Erosion des dominanten Gesellschaftsmodells folgte nicht die Erneuerung des Gesamtstaa­tes, sondern der Zerfall in Nationalstaaten. So gesehen scheint die nationale Dis- membration nicht nur die Ursache, sondern zugleich die Folge des politischen Wandels. Gewiß ging dem Zerfall eine Periode der sukzessiven Machterosion voraus, in der sich der Machtanspruch gleichsam verlor. Ohne die letzte große Kraftanstren­gung des Weltkrieges wäre wohl die rasche Auflösung des Habsburgerstaates in den wenigen Herbsttagen des Jahres 1918 undenkbar. Zusammen mit dem militäri­schen Scheitern des alten Regimes zerfiel auch das zaristische Rußland. In diesem Falle verzögerte sich der Staatszerfall um weitere siebzig Jahre, da der Herr­schaftswille der kommunistischen Partei den Gesamtstaat auf eine neue politische Basis zu stellen versuchte. Außerdem sicherte der Ausgang des Zweiten Weltkrie­ges - als defitionsgemäß „großer vaterländischer Krieg“ — dem Sowjetimperium eine weitere legitimatorische Berechtigung und eine territoriale Arrondierung. Das endliche Scheitern des Großstaatskonzeptes ist gewiß in erster Linie eine Folge von ökonomischen Defiziten, sozialen Disparitäten und politischer Emanzipation, wo­bei die verlustreiche Intervention in Afghanistan als eine Art von Katalysator der desintegrativen Tendenzen gewirkt haben mag. So gesehen vereinigten sich in beiden hier diskutierten Vergleichsbeispielen zwei Krisen, eine politische System­krise und eine Großstaatskrise. Nun zerfielen die Großreiche auffallend unspektakulär, beinahe bürokratisch entlang innerer administrativer Linien. Nur selten kam und kommt es zu militäri­schen Auseinandersetzungen: im Falle der Habsburgermonarchie beispielsweise zwischen Polen und Ruthenen, in den Kärntner Grenzkämpfen und vor allem zwi­schen Ungarn und Tschechoslowaken um die Slowakei. Periphere Konflikte sind trotz aller Grausamkeit auch die Auseinandersetzungen zwischen den kaukasischen Nachfolgerepubliken der Sowjetunion. Lediglich in Tschetschenien, Dagestan und Nordossetien ringt Rußland um seine nichtrussischen Randgebiete. Doch in Wahr­heit sind das schmerzvolle Spätfolgen einer längst akzeptierten Aufgliederung des Staates auf ethnische Teilgebiete. Rußland wird zuletzt auch die kaukasischen Se­zessionen hinnehmen. Im analytischen Zugriff sind mehrere desintegrative Kräfte voneinander zu sepa­rieren. Die ökonomischen Ursachen des Zerfalls von Großreichen werden in der Forschung kontroversiell abgehandelt. Eine Denkschule betont die politische Sprengkraft einer auch ökonomisch segmentierten Ordnung, die andere die inte­grative Rolle der wirtschaftlichen Verflechtung. David Good verortet den Fragen­komplex von wirtschaftlicher und politischer Integration in einem größeren euro­päischen Rahmen. Generell sind in dieser Perspektive die Staaten Zentral- und Osteuropas in bezug auf die Modernisierung ihre speziellen „Sonderwege“ gegan­3

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