Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)
Vorwort / Einleitung
Hanns Haas gen, jedoch ohne fundamentalen Unterschied zum übrigen Europa. Eine wesentliche Ursache für die ökonomische Rückständigkeit dieser Großregion sieht Good in ihrem instabilen institutioneilen Rahmenwerk. Lediglich die Habsburgermonarchie bot für einige Jahrzehnte ein funktionsfähiges Institutionengerüst, welches vor 1914 einen nicht unbedeutenden Wirtschaftsaufschwung ermöglichte. Good neigt also zu einer positiven Bilanz der habsburgischen staatlichen Integrationsleistung. Im Falle Rußlands beziehungsweise der Sowjetunion hingegen verzögerte die staatliche Instabilität die Modernisierung. Die sozialistische Staatswirtschaft hatte, so gesehen, ein schwieriges politisches und ökonomisches Erbe zu übernehmen, wenn sie auch ihrerseits die Isolation dieser Region von der dynamischen westlichen Wirtschaft prolongierte. Auf diese Weise versucht Good eine komplexe Antwort auf die politisch brisante Frage nach der Modemisierungsfahigkeit Osteuropas seit 1989, wenn er zugleich die Peripherisierung dieser Region in ein längeres zeitliches Kontinuum eingliedert. In den noch breiteren, globalen Rahmen von Kolonialismus und Dekolonialisie- rung stellt Patrick O’Brien den Fragenkomplex der Großreichbildung. Grundsätzlich ließe sich fragen, inwieweit nicht die drei ost(mittel)europäischen Großreiche, der Habsburgerstaat, Rußland und das Osmanische Reich in einem weiteren Sinne als Kolonialreiche zu betrachten sind, nur mit dem Unterschied zu den westeuropäischen Kolonialreichen, daß ihre Kolonialgebiete in direktem territorialen Verbund und nicht über die Weltmeere verstreut lagen. Dieses ambitionierte Thema mußte die Tagung jedoch einer nächsten Zusammenkunft weiterreichen. So gesehen bietet der Beitrag O’Briens über Kosten und Nutzen der westeuropäischen Kolonialreiche eine Vorleistung für einen solchen vergleichenden Diskurs. O’Brien befaßt sich mit den Kolonialreichen Spaniens, Portugals, Frankreichs und Großbritannien, und er zeigt, daß ihr ökonomischer Nutzen für die jeweilige Kolonialmacht keineswegs überschätzt werden sollte. Schon zeitgenössisch gab es kritische Stimmen zum wirtschaftlichen Effekt des Kolonialismus. Während die europäischen Großmächte zwischen 1846 und 1914 ihren Einfluß in Übersee behaupteten, ja vergrößerten, hielten schon damals einige „radikale“ Zeitgenossen einen phasenweisen Rückzug aus den Kolonien ohne ökonomische Verluste für sinnvoll. Außerdem war in einer vom Freihandel geprägten Weltwirtschaft die Einbindung in die „Weltökonomie“ wichtiger als der direkte Handel mit den eigenen Kolonien. Jedoch erst in der politisch und ökonomisch destabilisierten Periode nach dem Ersten Weltkrieg begann die Entkolonialisierung. Wenngleich Großbritannien, Frankreich und ihre Verbündeten im Zweiten Weltkrieg noch einmal ihre kolonialen Ressourcen für den Krieg gegen Deutschland, Japan, Italien und die anderen Achsenmächte nützen konnten, beschleunigte die Demokratisierung Europas seit 1946 die Dekolonisation. Übereinstimmung herrschte im Befund, daß die Auflösung des österreichischungarischen Wirtschaftsraumes trotz partieller weiterer wirtschaftlicher Verflech4