Helga Embacher, Gertrude Enderle-Burcel, Hanns Haas, Charlotte Natmessnig (Hrsg.): Sonderband 5. Vom Zerfall der Grossreiche zur Europäischen Union – Integrationsmodelle im 20. Jahrhundert (2000)

Vorwort / Einleitung

Hanns Haas Modifikationen - etwa an der kaukasischen Peripherie - abgesehen dürfte die eu­ropäische Landkarte feststehen. So gehören die Großreiche der Geschichte an, doch als Gegentrend vollzieht sich eine neuerliche Integration Europas zur politischen und wirtschaftlichen Einheit der Europäischen Union beziehungsweise zu militär­politischen Verbindungen mit noch größerer Reichweite. Wer heute den Zerfall der Großreiche behandelt, weiß um die fortbestehende sachliche Notwendigkeit inter­nationaler Zusammenschlüsse; wer am europäischen Haus baut, sollte vom Schei­tern früherer Vergemeinschaftung wissen. Diesen beiden Problemkreisen widmete sich die gemeinsam vom Salzburger Institut für Geschichte und vom Österreichi­schen Staatsarchiv vom 19. bis 21. November 1998 in Wien abgehaltene interna­tionale Tagung: „Vom Zerfall der Großreiche zur europäischen Union. Integrati­onsmodelle im 20. Jahrhundert“. Das Tagungsprotokoll erreicht nun eine breitere Öffentlichkeit. So eng strukturell verwandt der Zerfall der drei europäischen Großreiche auch war, so konzentrierte sich die Tagung aus Zeitgründen doch auf den Habsburger­staat sowie das (sowjet)russische Beispiel und vernachlässigte das Osmanische Reich. Eine globale Sichtweise der hier angesprochenen Fragen müßte ohnehin den Zerfall der großen Kolonialreiche, des spanischen, portugiesischen, niederländi­schen, britischen und französischen einbeziehen. Diese Dimension kam nur am Rande und zu Vergleichszwecken im Rahmen einer Kosten-Nutzen Rechnung des „imperialistischen Zeitalters“ zur Sprache. Inhaltlich waren gleichfalls wenige aussagekräftige Themen aus einer großen Palette auszuwählen. Den Ausgangspunkt bildet die zentrale Frage nach den kohä- siven und desintegrativen Kräften der zwei Großreiche, und zwar vornehmlich in den Bereichen der kulturellen Bindung, der politischen Orientierung und der wirt­schaftlichen Verflechtung. Die Geschichtsschreibung tendiert bekanntlich zur Rechtfertigung des Geschehenen. So galt die Habsburgermonarchie den Nachfol­gestaaten als „Völkerkerker“ und kultivieren heute die sowjetischen Erbstaaten die Idee einer weit zurück reichenden nationalen Opposition gegen das multinationale Prinzip. In gleicher Weise gelten Jugoslawien und die Tschechoslowakei als von Anfang an gescheiterte Experimente. Der zornige Rückblick verzerrt jedoch die Perspektive. In Wahrheit lebten die Zeitgenossen ihre Tage in ruhiger Zuversicht über den Bestand der alten Ordnung. Die Macht von Tradition und Gewohnheit war hier wie dort eine starke integrative Kraft, im Habsburgerstaat versinnbildlicht im Mythos des fürsorglichen Herrschers, im Sowjetreich aufgrund der Verbind­lichkeit einer weltlichen Erlösungsvision, in Jugoslawien in Erinnerung an den „Volksbefreiungskampf' und in der Tschechoslowakei als Folge des traumatischen Scheitems der nationalen Unabhängigkeit in der Zwischenkriegszeit. In allen diesen Fällen gelang vorerst die staatliche Integration und das lange Zu­sammenleben bewirkte eine Art von gesamtstaatlichen Patriotismus, ohne die Loyalität an die eigene nationale Gruppe ernsthaft zu gefährden. Alle Großstaaten 2

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