Sonderband 4. Das Institutionserbe der Monarchie. Das Fortleben der gemeinsamen Vergangenheit in den Archiven (1998)

Imre Ress: Der Weg zum Badener Abkommen (Teilung oder Aufbewahrung des Archiverbes der Monarchie)

Der Weg zum Badener Abkommen historischen Vergangenheit der verfeindeten ostmitteleuropäischen Nationen mög­lich wird2. Kärolyi und seine Gesinnungsgenossen, zu denen unter anderem sein tschechischer Kollege aus dem Haus-, Hof- und Staatsarchiv, Vaclav Kratochwill, der Direktor des Kriegsarchivs, Maximilian Hoen und der Leiter des österreichi­schen Parlamentsarchivs, Karl Neisser gehörten konnten sich mit ihren Ideen nicht einmal in ihrer Heimat durchsetzen3. Nach dem unerwarteten Ableben Kratoch- wills wurde der Posten des tschechischen Archivdelegierten mit Karel Kazbunda besetzt, der sich den Standpunkt der totalen Archivtrennung zu eigen machte4. In Österreich bekamen auch die Archivare die Oberhand, die für die ausschließliche Austrofizierung der Archive eingetreten sind5. Selbst Kärolyi wurde von einigen ungarischen Offizieren, die die vollkommene Trennung der Bestände des Kriegs­archivs konsequent nach österreichischen und ungarischen Betreffen erreichen wollten, immer wieder bei verschiedenen Behörden beschuldigt, daß er in den Ar­chivfragen das „hochverräterische, ungarnfeindliche“ Provenienzprinzip vertritt6. So ist es verständlich, da kein einziger Nachfolgestaat die Internationalisierung des archivischen Erbes der Monarchie zu seinem offiziellen Friedensziel gesetzt hat. Die Mehrheit der Nachfolgestaaten strebte die Auslieferung möglichst großer Archivteile nach dem Betreffsprinzip zu erreichen. Dementgegen waren die öster­reichischen und ungarischen Fachleute einig, die archivalische Liquidation mit der Anwendung des Provenienzenprinzips zu vollstrecken, aber über die zukünftige eigentumsrechtlichen Zugehörigkeit der Archive gingen die Meinungen auseinan­der. Österreich beanspruchte das alleinige Eigentumsrecht, Ungarn das Miteigen­tumsrecht am Archiverbe der Monarchie7. Auf Grund des Staatsvertrages von St. Germain hat Österreich das ganze auf seinem Hoheitsgebiet befindliche Staats­eigentum, unter anderem auch die Archive der zerfallenen Monarchie, in alleinigen Besitz genommen und wollte sich über die Archivfragen mit den Nachfolgestaaten in Form von bilateralen Übereinkünften arrangieren8. Die archivalischen Bestimmungen des österreichischen Friedensvertrages riefen in den ungarischen Fachkreisen eine große Enttäuschung vor. Da sich der ungari­sche Friedensvertrag im Herbst 1919 noch in einer Vorbereitungsphase befand, 2 Ress Imre: Die Ungarische Archivdelegation in Wien als eine Institution zur Lösung der grenzüber­schreitenden Archivprobleme. In: Scrinium, Heft 36-37. Jg. 1987. S. 265-266. 3 Ress Imre: A bécsi közös levéltârak szétvâlasztâsânak kérdése 1918-19-ben. [Die Probleme der Liquidation der Wiener k.u.k. Archive in den Jahren 1918-19.] In: Levéltâri Kôzlemények 58 (1987), 175-186. Über den Standpunkt von Hoen und Neisser siehe: Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Akten des Archivbevollmächtigten (HHStA, AAB) Nr. 1919-119. 4 Samberger Zdenek: K archivm rozluce po roce 1918 (Z vfdenskych vzpominek docenta Karla Kaz- bundy). In: Sbornik Archivm'ch Pracf, Jg.38. Praha, 1988, S. 368-372. - Mein besonderer Dank gilt meinem Kollegen Läszlö Szarka, der bei der Übersetzung des Aufsatzes behilflich war. 5 Bittner Ludwig: Das Wiener Haus-, Hof und Staatsarchiv in der Nachkriegszeit. In: Archivalische Zeitschrift. Dritte Folge. 2 (1925), 143. 6 Magyar Orszâgos Levéltâr (MOL), Budapest, Y 1 Direktionsakten, Karton 214. 7 Über den ungarischen Standpunkt informiert ausführlich die Aufzeichnung des österreichischen Archivbevollmächtigten Oswald Redlich über seine Besprechung mit dem ung. Liquidierungskom- misär Ärpäd Kärolyi. 27 September 1919. HHStA, AAB. Nr. 1919-145. 8 Das österreichische Liquidierungsgesetz vom 18. Dezember 1919. Wie oben Anm. 5. 16

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