Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)

Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg

Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg Bei den Zuckerlieferungsverträgen vom März 1919, Jänner und März 1920 stellte sich die österreichische Regierung auf den Rechtsstandpunkt, daß alle drei Verträge festgeschlossene, privatrechtlich klagbare Kaufverträge mit Bestimmung des Quan­tums, des Preises, des Ablauftermins und des Ausschlusses der Rücktrittsmöglichkeit bei vorliegender Nichtauslieferung auch nach ihrem Ablauf seien. Österreich sah sich daher aus dem Kompensationsübereinkommen zu keinen Lieferungen verpflich­tet. Den Märzvertrag des Jahres 1919 sah man nicht als Bestandteil des Kompensati­onsübereinkommens, sondern als extra abgeschlossenen privatrechtlichen Vertrag mit voller tschechoslowakischer Verpflichtung. Die tschechoslowakische Regierung hingegen ging auf diese Spitzfindigkeiten überhaupt nicht ein, sondern stellte ein absolutes Junktim zwischen den Zuckerliefe­rungen und den finanzpolitischen Forderungen auf und machte überdies Zuckerliefe­rungen aus allen drei Verträgen von der vollständigen Auslieferung der österreichi­schen Kompensationswaren abhängig. Österreichischerseits wurde allerdings vermutet, daß die Tschechoslowakei gar keinen besonderen Wert auf eine tatsächliche Nachlieferung der österreichischen Kompensationsartikel legte, sondern daß sie nur möglichst große Abstriche von den zugesagten Zuckerlieferungen machen möchte82. Während dies von der österreichi­schen Seite nur vermutet wurde, kam es bei der Verbindung von Zuckerlieferungen mit finanzpolitischen Fragen am 6. Mai 1920 sogar zu einem diesbezüglichen tsche­choslowakischen Ministerratsbeschluß. Karl Englis, der tschechoslowakische Fi­nanzminister, erklärte im Juli 1920 dezidiert, daß es zu keinen weiteren Zuckerliefe­rungen aus den Verträgen 1919 und 1920 kommen werde, bevor nicht sämtliche Verträge betreffend die Lösung der finanzpolitischen Fragen - Ausfolgung der Depositen, gegenseitige Begleichung der alten Rechnungen, Nostrifikati­on -österreichischerseits finalisiert, gefertigt und bezüglich der Depositenausfolgung auch durchgefuhrt werden83. Obwohl es im Juli 1920 in Prag zu einem Protokoll über Kompromißlieferungen aus dem Kompensationsvertrag vom März 1919 gekommen war, wurden Zuckerlie­ferungen immer wieder verschoben und immer wieder mit finanzpolitischen Forde­rungen in Verbindung gebracht84. Erst nachdem am 2. August 1920 ein Überein­kommen hinsichtlich der Nostrifikation und der Freigabe der Depots zustande ge­kommen war, wurden mit 2. August 1920 die Zuckerlieferungen wieder aufgenom- men85. Gleichzeitig war es auch zu einem Übereinkommen der Transport- und Pro­82 AdR Wien, BKA/AA, Abt. 14 HP, Karton 705, Deutschösterreichisches Staatsamt für Äußeres, ZI. 47.430/1920 Liquidierung des Kompensationsvertrages vom 12.März 1919, Einstellung der Zucker­lieferungen - Verhandlungen zwecks Wiederaufnahme derselben, 30. Juli 1920. 83 Ebenda, Deutschösterreichisches Staatsamt für Äußeres, ZI. 45.390/10-4.148/1920, Liquidierung des tschechischen Zuckervertrages, 21. Juli 1920. 84 Ebenda, Deutschösterreichisches Staatsamt für Äußeres, ZI. 47.112/10-4.319/1920, Liquidierung des Zuckervertrages, 29. Juli 1920; ZI. 53.437/1920, Zuckerlieferung aus der Tschechoslowakei 1. Septem­ber 1920. 85 Ebenda, Deutschösterreichisches Staatsamt für Äußeres, ZI. 51.365/10-4.783/1920, Zuckerverhand­lungen mit der tschechoslowakischen Regierung, 19. August 1920. 189

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