Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)

Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg

Gertrude Enderle-Burcel Kohlesendungen blieben aber weiter aufrecht79. Mit 1. Jänner 1922 hatte sich die Kohlensituation soweit gebessert, daß in Österreich der freie Kohlenhandel einge­führt wurde. Selbst zu diesem Zeitpunkt wollte das tschechoslowaki­sche Arbeitsministerium noch Einfluß auf die Verteilung und Zuweisung von Koh­lenrestkontingenten nehmen80. Neben der Lieferung von Kohle waren Zuckerlieferungen wichtiger Bestandteil der Verhandlungen von Staatskanzler Karl Renner Edvard Benes im Jänner 1920. Auf Grund der österreichischen Zusagen über die Ausfolgung von Depositen und die Nostrifikation von Effekten wurde von der tschechoslowakischen Regierung die Lieferung von Kohle und Zucker an Österreich verbindlich zugesagt. In Folge der politischen Vereinbarungen kam es im Jänner 1920 und im März 1920 zu weiteren kleinen Zuckerlieferungsverträgen. Der Zuckerpreis war zwar bedeutend höher als im Märzvertrag von 1919, gewährte Österreich jedoch gegenüber dem allgemeinen Zuckerexportpreis von 39 Kronen pro Kilo bedeutende Ermäßigungen. Der Preis betrug für Österreich gestaffelt 7, 11, 13 und 15 Kronen81. Im April 1920 wurden aber von der Zuckerkommission im Auftrag der tschecho­slowakischen Regierung die Nachlieferungen aus dem Übereinkommen vom 12. März 1919 eingestellt. Zu diesem Zeitpunkt fehlten noch immer etwa 1000 Waggons aus dem Märzvertrag zu dem günstigen Preis von 4 Kronen. Diese Zuk- kerlieferungseinstellung war durch ein Schreiben des österreichischen Warenver­kehrsbüros an das Kontroll- und Kompensationsamt in Prag vom 29. März 1920 bewirkt worden. Ein Passus des österreichischen Schreibens, in dem mit Bezug auf den Märzvertrag von 1919 als von einem „bereits liquidierten Vertrag“ im Zusam­menhang mit einer österreichischen Rohaluminiumlieferung gesprochen wurde, bot den Vertretern der tschechoslowakischen Zucker-Ausfuhr-Gesellschaft einen will­kommenen Anlaß, die billigen Zuckerlieferungen aus dem Märzvertrag vom Jahre 1919 sofort einzustellen. Es begann nun ein zähes Verhandeln ob oder wieweit die­ser Vertrag noch gültig sei. Österreich stellte sich auf den Rechtsstandpunkt, daß es aus dem Kompensationsvertrag vom März 1919 überhaupt keine Lieferungsver­pflichtung habe, da sämtliche Kompensationswaren in Österreich zu diesem Zeit­punkt im freien Einkauf besorgt werden mußten. Österreich hatte daher lediglich die Ausfuhrbewilligung für Minimal- und Maximalquantitäten zum Teil nur unter Rücksichtnahme auf den Inlandsbedarf zugesichert. Man hätte sich aber stets be­müht, die Lieferungen zu leisten, um den billigen Märzzucker vom Jahre 1919 zu retten. 79 Ebenda, Deutschösterreichisches Staatsamt fur Äußeres, Abschrift Österreichisches Bundesministerium für Verkehrswesen, ZI. 23.509/15 vom 30. Juni 1921, Differentialtarife für Kohle auf den tschechoslo­wakischen Staatsbahnen. 80 AdR Wien, BKA/AA, Abt. 14 HP, Karton 705, Deutschösterreichisches Staatsamt für Äußeres, Bundes­ministerium für Äußeres, ZI. 5.568/1922, Gesandtschaftsbericht vom 28. Jänner 1922, Prager Kohlenver­handlungen, Protokoll über die am 12. und 13. Jänner 1922 stattgefundene Besprechung. 81 Ebenda, Deutschösterreichisches Staatsamt für Äußeres, ZI. 49.626/1920 Prager Wirtschaftsverhand- lungen (Zuckervertrag 12. März 1919), 16. August 1920. 188

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