Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)
Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg
Gertrude Enderlc-Burcel verhindern müßte, daß sich diese Nationen „gegenüber Deutschösterreich alles, ja noch mehr als das irgendwie Mögliche erlauben“68. Im Mai und Juni 1919 war es laufend zu Verhandlungen gekommen, die die Kohlelieferungen nach Ablauf des Vertrages vom 11. Dezember 1918 regeln sollten. Im August 1919 kam es schließlich zu einer Regelung bis Ende des Jahres69. Ende des Jahres wurde mit der Kohlenabteilung des Ministeriums für öffentliche Arbeiten in Prag vereinbart, daß ohne Präjudiz für die weitere Regelung der Kohlenlieferungen, an die Stadt Wien im bisherigen Ausmaß weitergeliefert werden solle. Österreich verpflichtete sich dafür, die Kompensationslieferungen in Rohstoffen und Fertigfabrikaten sowie in Demobilisierungsgütern ebenfalls weiterzuführen70. 1919 war aber die Versorgung innerhalb der Tschechoslowakei noch äußerst schlecht. Lediglich die teure, sogenannte Kompensationskohle war jederzeit im Schleichhandel für die tschechoslowakische Wirtschaft zu haben71. Neben dem Schleichhandel wurden geringe Fördemng und Waggonmangel für die im Laufe des Jahres 1919 immer schlechter werdende Kohlenversorgung angeführt72. Anläßlich des Treffens Renner-Benes im Jänner 1920 in Prag war es zu einem neuen Kohlenübereinkommen gekommen, das ab 1. März 1920 wirksam werden sollte. Diese von Staatskanzler Renner „persönlich erkämpfte Zusicherung“ ist allerdings nie erfüllt worden. 1920 kam es beim österreichischen Staatsamt für Äußeres laufend zu Klagen über nicht erfüllte Zusagen, bzw. sinkende oder stockende Lieferungen73. Bei den Jännerverhandlungen 1920 waren nur österreichische Regierungsvertreter, nicht aber Fachbeamte anwesend gewesen. Diese wiesen sofort nach Bekanntwerden der Vereinbamngen auf kommende Schwierigkeiten hin, da die Lieferungen „von der erfolgten Einigung bei den Kompensationsverhandlungen abhängig gemacht wurden“. Es war klar, daß die Aufstellung unerfüllbarer Forderungen bei den Kompensationsverhandlungen die Einstellung von Kohlelieferungen zur Folge haben konnten. Für die Beamten im Handelsressort war daher von eigentlichen Verhandlungen gar nicht die Rede: angeführt wurde im besonderen die „äußerst illoyale und geradezu gehässige Verhandlungstaktik der cs. Unterhändler“, die der Kramar-Partei 68 AdR Wien, BKA/AA, Abt. 14 HP, Karton 705, Deutschösterreichisches Staatsamt für Äußeres, ZI. 6.334/22. Mai 1919, Schwierigkeiten bei der Beschaffimg von Gaskohle aus der tschechoslowakischen Republik. 69 AdR Wien, BKA/AA, Abt. 14 HP, Karton 705, Deutschösterreichisches Staatsamt fiir Äußeres, ZI. 15.539/1919, Schreiben des Bevollmächtigten Deutschösterreichs aus Prag an das Staatsamt fur Äußeres, 7. Dezember 1919. 70 AdR Wien, BKA/AA, Abt. 14 HP, Karton 705, Deutschösterreichisches Staatsamt fiir Äußeres, ZI. 963/1920, Schreiben des Bevollmächtigten Österreichs aus Prag vom 31. Dezember 1919. 71 Berichte aus den neuen Staaten, Nr. 131 bis 133 vom 17. Juli 1919: „Kohle“, S. 916. 72 Ebenda, Nr. 152 und 153 vom 14. August 1919: „Ausfuhrfragen“, S. 1056; fast jede Nummer der Berichte aus den neuen Staaten enthält tschechoslowakische Zeitungsartikel, in denen Klage über die schlechte Kohlenversorgung innerhalb der Tschechoslowakei geführt wird. 73 AdR Wien, BKA/AA, Abt. 14 HP, Karton 705, Deutschösterreichisches Staatsamt für Äußeres, ZI. 42.475/1920 Kohlenlieferungen aus der Tschechoslowakei, 12. Juli 1920; ZI. 73.815 vom Dezember 1920. 186