Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)
Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg
Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg wakische Minister für öffentliche Arbeiten, Franz Stanek, forderte zudem Akten, die ihn persönlich betrafen64. Trotz der Erfüllung dieser zahlreichen politischen, wirtschaftlichen aber auch rein privaten Forderungen durch Österreich wurde der Kohlevertrag vom Dezember 1918 von der Tschechoslowakei nicht erfüllt. Nur ein Teil der Lieferungen für die Stadt Wien und die Eisenbahnen erfolgte tatsächlich. Nicht geliefert wurde die Industriekohle, obwohl die tschechoslowakische Seite sich in dem Vertrag dazu verpflichtet hatte. Da die Verhandlungen wegen Erfüllung des Dezembervertrages keinen Erfolg hatten, versuchten einzelne österreichische Industriesparten, durch direkte Vereinbarungen Kohle zu erhalten. So war es zu Kompensationsverträgen betreffend Magnesit, Preßhefe, Aluminium u. a. gekommen. Da aber nach Einschätzung der österreichischen Ministerien keine österreichischen Kompensationswaren für neue Verträge mehr vorhanden waren und die Tschechoslowakei nicht dazu gebracht werden konnte, die Lieferung von Industriekohle entsprechend dem Dezembervertrag von 1918 einzuhalten, wurde entschieden, ein Ententeforum mit der Kohlefrage zu konfrontieren65. Die Ententekommission in Österreich wurde auch tatsächlich mehrmals mit dem österreichischen Kohleproblem, bzw. den österreichischen Argumenten befaßt66. Vorübergehend bestand sogar der Plan, durch den Wirtschaftsrat der Entente eine besondere Kommission zur Verwaltung der europäischen Kohlenförderung einzusetzen. Gegen dieses „Kommando der Entente über ... wirtschaftliche Güter“ regte sich allerdings sofort heftiger Widerstand in der Tschechoslowakei, die eine solche zentrale europäische Bewirtschaftung auch für andere Waren fürchtete67. Für die stockenden Lieferungen - die Bahnen hatten durchschnittlich nur 29 Prozent, die Gemeinde Wien nur 55 Prozent der zugesagten Mengen erhalten - wurden von der Tschechoslowakei u. a. die in den einzelnen Revieren stattgefimdenen Arbeiterunruhen angeführt. Als weiterer Grund für die Nichtlieferung wurde der am 11. März 1919 zwischen Polen und der Tschechoslowakei abgeschlossene Kohlelieferungsvertrag angeführt, der die Tschechoslowakei zu täglichen Lieferungen von 4 000 Tonnen Koks und Kohle verpflichtete. Das österreichische Warenverkehrsbüro hielt diese Argumente für bloße Ausreden und war der Meinung, daß Frankreich als wichtigster Protektor der Tschechen, Polen und Südslawen mit einem Machtwort 64 AdR Wien, BKA/AA, Abt. 14 HP, Sammelakt Nr. 30; vgl. dazu auch ZI. 1.254/10/1919, Versorgung Deutschösterreichs mit Kohle, Berücksichtigung der Wünsche der tschechoslowakischen Regierung. 65 AdR Wien, BKA/AA, Abt. 14 HP, Karton 705, Deutschösterreichisches Staatsamt für Äußeres, ZI. 3.471/22, März 1919, Bericht über die Kohlensitzung im Staatsamt für öffentliche Arbeiten vom 20. März 1919. Ebenda, Deutschösterreichisches Staatsamt für Äußeres ZI. 4.521/1919, Einfuhr von Kohle aus dem tschechoslowakischen Staate, 30. April 1919. Berichte aus den neuen Staaten, Nr. 166 und 167 vom 2. September 1919: „Gegen eine Bevormundung durch die Entente in der Kohlenfrage“, S. 1163 f. 185