Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)
Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg
Gertrude Enderle-Burce! Ähnlich wie bei dem Zuckerabkommen verliefen die Verhandlungen auch bei der Kohle, die zudem für die Gesamtwirtschaft von weitaus größerer Bedeutung war. Die Tschechoslowakei, im Besitz von mehr als zwei Drittel der gesamten Kohleerzeugung der ehemaligen Monarchie58, benützte von Anfang an diese Position, um auf Österreich politischen Druck auszuüben. Sie ging dabei soweit, auch die Durchfuhr von oberschlesischer Kohle zu verhindern. Die tschechoslowakische Regierung hatte sich durch eine rigorose staatliche Bewirtschaftung jeden Einfluß auf die Kohlenverteilung im In- und Ausland gesichert59. Ende November 1918 hatte sich durch die sinkenden Kohlelieferungen die Lage in Österreich drastisch zugespitzt. Es fehlte an Kohle zum Kochen und Heizen für die Bevölkerung, aber auch für die Durchführung von Transporten sowie für die Aufrechterhaltung des Betriebes der Mühlen und Bäckereien, wie auch der Industrie. Selbst österreichische Interventionsversuche bei der Entente, bzw. die darauffolgenden versuchten Einflußnahmen Frankreichs und Italiens konnten keine tschechoslowakischen Kohlelieferungen bewirken60. Erst nachdem Anfang Dezember 1918 die österreichische Regierung in der Öffentlichkeit ihren grundsätzlichen Willen zur Aufgabe der direkten Gebietsgewalt über die Sudentengebiete und zur Nichtanwendung militärischer Mittel bekundet hatte, wurden die abgebrochenen Gespräche über Kohlelieferungen wieder aufgenommen. Am 11. Dezember 1918 wurde ein für Österreich an sich günstiger Kohlevertrag abgeschlossen, der bis 11. Juni 1919 gelten sollte. Die österreichische Regierung hatte damit die Sudetenfrage gesamtösterreichischen Wirtschaftsinteressen untergeordnet61. Für die von der Tschechoslowakei zugesagten 500 Waggons (= 5 000 Tonnen) Kohle täglich, das entsprach rund 150 000 Tonnen im Monat, wurde eine hundertprozentige Kompensierung in Demobilisierungsgüter, sonstiger Kompensationsgüter62, hauptsächlich Magnesit, Metalle, Stahl, Rotationspapier, und die Überlassung des Donauschiffparks63 gefordert. Parallel dazu kam es daher auch zu einem von der Tschechoslowakei geforderten Abkommen über Demobilisierungsgüter und zu Forderungen nach Auslieferung aller Akten, die sich auf Böhmen, Mähren und Schlesien bezogen. Der tschechoslo58 H o r a k : Die wirtschaftliche Entwicklung der Tschechoslowakei, S. 77. 59 Berichte aus den neuen Staaten, Nr. 231 bis 233 vom9. Dezember 1919: „Der Staat und die Kohle“, S. 1626; Nr. 234 und 235 vom 12. Dezember 1919: „Erste Sitzung des Kohlenrates beim Ministerium für öffentliche Arbeit“, S. 1646 f. 60 AdR Wien, BKA/AA, Abt. 14 HP, Karton 705, Deutschösterreichisches Staatsamt für Äußeres, ZI. 405/1918, Kohlebezug aus Schlesien, französisch-englische Intervention, 25. November 1918; ZI. 1.170/1918, Telegramm Baron de Vaux, Bern 27. November 1918. 61 Vgl. dazu im Detail Haas, Hanns: Die deutsch-böhmische Frage 1918-1919 und das österreichischtschechoslowakische Verhältnis. In: Bohemia. Jahrbuch des Collegium Carolinum 13 (1972), S. 360-368. 62 Gefordert wurde die sofortige Lieferung von Sprengstoffen, Förderseilen, Feldbahnen und Lastfahrzeugen. Vgl. dazu AdR Wien, Deutschösterreichische Staatskanzlei, ZI. 34/1/2. Jänner 1919, Amtserinnerung betreffend Übereinkommen mit dem tschechoslowakischen Staat in der Kohlenfrage und der ungarischen Regierung in der Lebensmittelfrage. 63 AdR Wien, Deutschösterreichisches Staatsamt für Handel und Gewerbe, Karton 2944, ZI. 1.330/1920, Vorbereitung der Kompensationsverhandlungen mit der tschechoslowakischen Republik, 20. Jänner 1920. 184