Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)
Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg
Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg Mit der Tschechoslowakei wurde von Österreich im November 1918 ein Zuk- kerübereinkommen und im Dezember 1918 ein Melasseübereinkommen abgeschlossen, doch stockten die unzureichenden Lieferungen bald53. Neben den unregelmäßigen Zuckerlieferungen zur Aufrechterhaltung der Versorgung der österreichischen Bevölkerung in den ersten Nachkriegsmonaten, stellte das Zuckerübereinkommen im Rahmen des Kompensationsübereinkommens vom März 1919 die erste längerfristige Zusage von Zuckerlieferungen dar. Diese Lieferungen waren allerdings mit 30. September 1919 befristet. Bei Ablauf dieser Frist befand sich die Tschechoslowakei mit 4 613 Waggons von insgesamt 7 128 zugesagten im Rückstand. Im Deutschösterreichischen Staatsamt für Volksernährung erwartete man zwar die Nachlieferung der Restmenge, die die österrreichische Zuckerversorgung noch einige Monate sichern konnte, drängte aber auf den raschen Abschluß eines neuen Vertrages für die Zeit nach dem 1. Oktober 191954. Eine entsprechende diplomatische Intervention Österreichs in Prag ergab allerdings nur eine Zusage für die noch ausständige Nachlieferung. Der tschechoslowakische Handelsminister lehnte einen neuen Zuckervertrag mit dem Hinweis auf Verpflichtungen gegenüber Frankreich ab. Die Tschechoslowakei hätte die gesamten Exportüberschüsse in Zuk- ker der société général in Paris gegen eine Anleihe von 300 Millionen Francs aus valutarischen Gründen verpfändet55. Zu diesem Zeitpunkt kam es aber zur Einflußnahme des interalliierten Nahrungsmittelkomitees in London auf die tschechoslowakische Verkaufspolitik. Tschechoslowakischer Zucker durfte von der britischen, französischen und italienischen Regierung nur im Einvernehmen mit diesem Komitee gekauft werden. Die Tschechoslowakei wurde davon verständigt, daß eine Bedingung für derartige Käufe das Freibleiben einer gewissen Exportquote für Österreich und andere europäische Länder sei, die bereits früher Exportgebiet gewesen waren56. Damit wurde von der Entente verhindert, daß die Tschechoslowakei nur an valutastarke Länder verkaufte, bzw, daß es in Folge von Emährungsengpässen zu politischen Unruhen käme. Österreich versuchte daraufhin über die Reparationskommission, Druck auf die Tschechoslowakei auszuüben, um so zum Abschluß eines Zuk- kervertrages zu kommen. Von der unsicheren und kurzfristigen Zuckerversorgung war nämlich nicht nur die Versorgung der Bevölkerung mit Haushaltszucker betroffen, sondern auch die nicht unbedeutende zuckerverarbeitende Industrie Österreichs57. AdR Wien, BKA/AA, Abt. 14 HP, Karton 64, ZI. II1-4.204/1919, Ratifizierung des tschechoslowakischen Kompensationsübereinkommens, 4. April 1919. Der Akt enthält einen Rückblick auf das Jahr 1918. Ebenda, ZI. 111-11.733/1919, Lieferung von Zucker aus der tschechoslowakischen Republik, vom 24. September 1919. 55 AdR Wien, BKA/AA, Abt. 14 HP, Karton 64, ZI. III-12.171/1919, Lieferung von Zucker aus der tschechoslowakischen Republik, 30. September 1919, Telegramm Dr. Mareks aus Prag vom 26. September 1919. Ebenda, ZI. Ill-14.182/1919, Tschechoslowakischer Zuckerexport, Verfügung der Entente, Telegramm von Sektionschef Eichhof aus Paris vom 10. November 1919. Ebenda, ZI. III-14.761/1919, Schreiben des Deutschösterreichischen Staatsamtes für Volksemährung an die Sub-Kommission des Organisationskomitees der Reparationskommission vom 21. November 1919. 183