Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)
Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg
Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg schnell überholt erscheinen und machten Kalkulationen oft unmöglich40. Bei den kurzfristigen Kompensationsverträgen der unmittelbaren Nachkriegszeit erfolgten daher die gegenseitigen Leistungen Zug um Zug. Lieferungs- und Zahlungsbedingungen waren genau festgelegt. Um die Währungsschwierigkeiten zu umgehen, trat an die Stelle der Geldzahlung häufig die Zahlung mit Waren. Österreich konnte sich in den ersten Nachkriegsjahren nur auf Grund solcher Verträge mit den notwendigsten Lebensmitteln und Rohstoffen versorgen41. Zucker gehörte neben Kohle zu jenen tschechoslowakischen Exportartikeln, die für die österreichische Wirtschaft bzw. für die Aufrechterhaltung der Versorgung der Bevölkerung lebensnotwendig waren. Die Lieferung beider Artikel wurde von der tschechoslowakischen Regierung immer wieder mit der Durchsetzung politischer und finanzpolitischer Forderungen in Verbindung gebracht. In Österreich bestand auf Grund des großen Bedarfes an Lebensmitteln und Rohstoffen eine weitaus freiere Handhabung der Ein- und Ausfuhr, als in der Tschechoslowakei. Zur Einfuhr von Boden- und Gewerbeerzeugnissen nach Österreich bedurfte es aus den Nachfolgestaaten keinerlei Bewilligung, während für genau bestimmte Waren Aus- und Durchftrhrbewilligungen notwendig waren42. Zur Durchführung der Bestimmungen bestand in Österreich ein Warenverkehrsbüro. In der Tschechoslowakei durfte nichts ohne Bewilligung der Export- und Importkommission ein- oder ausgeführt werden43. Gegen diese starke staatliche Kontrolle, verschärft durch unzählige Bewirtschaftungszentralen und Syndikate, gab es allerdings von Anfang an in der Tschechoslowakei Kritik von den verschiedensten Wirtschaftskreisen, die die private Unternehmertätigkeit zu stark eingeschränkt sahen44. Auch einzelne Ministerien konnten Aus- und Einfuhrbewilligungen erteilen45. Der strenge Zentralismus in Außenhandelsfragen wirkte sich auch negativ in der Slowakei aus, wo man sich durch die Prager Ausfuhrkommission benachteiligt fühlte46. Obwohl es interne Listen einzelner Warengattungen gab, deren Ein-, Aus- und Durchfuhr als generell bewilligt galt, lag es beim betreffenden Referenten der Kommission, derartige Bewilligungen zu erteilen, ohne weitere Befragung der Ausschüsse oder des Plenums der Export- und Importkommission. Die Liste war nicht 40 Vgl. dazu u. a. Der Österreichische Volkswirt vom 7. Juni 1919 (11. Jahr, Nr.36): Die handelspolitischen Friedensbedingungen S. 658 f; vom 14. Juni 1919 (11. Jahr, Nr.37): Die Regelung des Außenhandels, S. 679; vom 29. Mai 1920 (12. Jahr, Nr.35): Die neue tschechische Devisenordnung, S. 668 f. 41 Slavik: Der Außenhandel, S. 45. 42 Vgl. dazu Staatsgesetzblatt Nr. 4/1919. 43 Die Export- und Importkommission wurde mit Verordnung des Handelsministeriums vom 22. November 1918, tschechoslowakisches Staatsgesetzblatt 43, ins Leben gerufen. 44 Berichte aus den neuen Staaten, Nr. 192 bis 194 vom 14. Oktober 1919: „Handelspolitik und Zollwesen. Zur Reorganisation der Ein- und Ausfiihrkommission“, S. 1356; Nr. 231 bis 233 vom 9. Dezember 1919: „Eine Kundgebung der mährischen Industriellen“, S. 1626. 45 Ebenda, Nr. 245 und 246 vom 29. Dezember 1919: „Politik und Wirtschaft“, S. 1719 f. 46 Ebenda, Nr. 184 bis 186 vom 30. September 1919: „Deutschösterreichische Textilwaren in der Slowakei“, S. 1296; Nr. 90 bis 92 vom 10. Juni 1920: „Die industrielle Lage im Preßburger Kammerbezirk“, S. 674; Nr. 96 bis 98 vom 23. Juni 1920: „Handelspolitik. Das Programm des Handelsministers Dr. Ho- towetz“, S. 726 f.; „Die Lage der slowakischen Industrie“, S. 728 f. 181