Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)
Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg
Gertrude Enderle-Burcel die Außen- und Wirtschaftspolitik35. Noch 1921 gab es Klagen, daß die Tschechoslowakei in der Handelspolitik noch kein System gefunden hätte. Die Feindschaft gegen Alt-Österreich sei auf Neu-Österreich übertragen worden und hätte zu einer Absperrung gegen ehemalige Absatzgebiete geführt, für die die westlichen Staaten Ersatz bieten hätten sollen, das Ergebnis sei „ein zerfahrenes System einer merkan- tilistischen Handelspolitik mit stark fiskalischem Einschlag“, das sich als verfehlt erwiesen hätte, heißt es in einer zeitgenössischen Analyse36. Bei der Beurteilung der Auswirkungen der handelspolitischen Bestimmungen des Staatsvertrags von St. Germain, besonders auch der einseitigen Meistbegünstigung auf den Außenhandel Österreichs, weist Alice Teichova auf große Forschungslücken hin, wenngleich es unbesfritten ist, daß die Bestimmungen Österreich in eine nachteilige Lage im Welthandel gebracht hatten37. Für die unmittelbare Nachkriegszeit galten aber noch weitaus schwierigere Bedingungen für den Außenhandel, da der Vertrag von St. Germain erst im September 1919 unterzeichnet wurde und im Juli 1920 in Kraft trat. Mit den Bestimmungen von St. Germain wurde der Außenhandel zwar in für Österreich ungünstige, aber doch geordnete Bahnen gelenkt. Bei Kriegsende war Österreich sofort auf Lebensmittel- und Kohlelieferungen aus dem Ausland angewiesen - beides Hauptursachen für das chronische Handelsbilanz- defizit Österreichs in der Zwischenkriegszeit. Trotz der Blockade, die die Alliierten erst im März 1919 aufgehoben hatten und der Ein- und Ausfuhrverbote der Nachfolgestaaten, kam es schon im November und Dezember 1918 zu einigen Kompensationsverträgen Österreichs mit Polen, Ungarn, Jugoslawien und der Tschechoslowakei. Die ersten Kompensationsverträge mit der Tschechoslowakei betrafen Zucker und Kohle38. Der Kompensationsverkehr wurde zunächst zum Regelfall des internationalen Handels39. Da die Regierungen noch keine zwischenstaatlichen Verhandlungen einleiten konnten oder wollten, organisierten private Institutionen diesen Austausch. Jeder Staat tauschte die Güter, die er brauchte und nahm sie dort, wo er sie bekam. Nationale Ein- und Ausfuhrverbote, schleppende Erledigungen durch Regierungsstellen und Devisenzentralen sowie schwankende Devisenkurse ließen Offerte 35 Vgl. dazuu. a. Berichte aus den neuen Staaten, Nr. 7bis9 vom 13. Jänner 1920: „Zur Frage der Donauföderation“; „Die Grundlinien der auswärtigen Politik“, S. 55; Berichte in diesem Sinn gibt es 1920 laufend. Ebenda, Nr. 22 bis 24 vom 5. März 1921: „Die handelspolitische Entwicklung der Tschechoslowakei von J. U. Dr. Friedrich Weil (Prag); vgl. dazu auch Archiv der Republik (in Hinkunft AdR) Wien, Österreichisches Staatsamt für Äußeres, Karton 467, ZI. 64.945/10/1920 Tschechische Handelspolitik, Bericht der österreichischen Gesandtschaft in Prag, 19. Oktober 1920. 37 Teichova: Aufbau der Wirtschaftsbeziehungen, S. 239 f. 38 Enderle-Burcel, Gertrude - K u b û , Eduard: Handelsbeziehungen in der unmittelbaren Nachkriegszeit. In: Österreich und die Tschechoslowakei 1918—1938. Die wirtschaftliche Neuordnung in Zentraleuropa in der Zwischenkriegszeit, hrsg. von Alice Teichova und Herbert Matis. Wien 1996, S. 113-130. 39 Der Österreichische Volkswirt vom 7. Juni 1919 (11. Jahr, Nr.36): Die handelspolitischen Friedensbedingungen, S. 658. 180