Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)

Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg

Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Erster. Weltkrieg choslowakei vorgesehen, auf die die Meistbegünstigungsklausel keine Anwendung finden hätte sollen, zu denen es aber nie gekommen ist27. Außerdem war auch diese Bestimmung auf fünf Jahre begrenzt und nicht als Grundlage für eine dauernde Zollunion zwischen diesen Ländern gedacht28, wie insgesamt die Absperrungspolitik der Tschechoslowakei und Ungarns das Nichtzustandekommen eines solchen Ab­kommens begünstigte29. Alle Zollunionspläne der Nachkriegszeit hängen eng mit Artikel 222 zusammen. Die Prager Handels- und Gewerbekammer hatte zwar auf Wunsch des Handels­ministers eine großangelegte Enquete über die wirtschaftlichen Bestimmungen des Staatsvertrages von St. Germain und vor allem über den Artikel 222 eingeleitet, nach dem ein spezielles Handelsabkommen geschlossen hätte werden können, doch wurden alle Bestrebungen zum wirtschaftlichen Zusammenschluß einzelner Nach­folgestatten von Seiten der Tschechoslowakei strikt abgelehnt. Gerade im Außen­handel wollte man die traditionelle Vermittlerrolle Wiens zwischen Produktionslän­dern und den Absatzgebieten in den Nachfolgestaaten, bzw. den Balkanländern ausschalten30, sodaß Artikel 222 den tschechischen Emanzipationsbestrebungen völlig zuwiderlief31. Die tschechoslowakische Regierung betonte zwar stets, ein Ex­portstaat zu sein und fühlte sich auch von der deutschen Konkurrenz auf den meisten Absatzmärkten bedroht, die Schaffung eines einheitlichen größeren Zollgebietes aus selbst nur Teilen der ehemaligen österreichisch-ungarischen Monarchie war mit den in der Tschechoslowakei vorherrschenden nationalistischen Strömungen aber nicht vereinbar32. Insgesamt wurden die Möglichkeiten, die der Artikel 222 bot, von tsche­chischer Seite nur als Vorteil für Österreich bewertet33. Wien wurde dabei unterstellt, „noch immer gern ständig auf fremde Kosten leben“ zu wollen34. Die Berichte aus den neuen Staaten bringen laufend Beispiele für die Angst der Tschechoslowakei vor einer weiteren österreichischen Wirtschaftsdominanz und zeigen den unbedingten Willen der Tschechoslowakei zur wirtschaftlichen Emanzipation. Föderationspläne jeglicher Art, auch ausländisches Kapital, das ja nur das österreichische ersetzen würde, wurden abgelehnt. Nationalistische Vorstellungen beeinflußten weitgehend Levit : Wirtschaftliche Lage der Tschechoslowakei, S. 82. 28 Der Österreichische Volkswirt vom 28. Juni 1919 (11. Jahr, Nr. 39): Die handelspolitischen Friedensbedingungen, S. 724. 29 Berger: Donauraum, S. 186, Anm. 2. Peter Berger geht noch im Detail auf jene Bestimmungen des Vertrages von St. Germain ein, die die handelspolitische Bewegungsfreiheit Österreichs beeinträchtigten. 30 Berichte aus den neuen Staaten, Nr. 4 bis 6 vom 10. Jänner 1919: „Die Donauföderation“, S. 31 f; Nr. 207 und 208 vom 7. November 1919: „Wirtschaftskrieg. Die wirtschaftliche Emanzipation von Wien“, S. 1453; Nr. 247 bis 249 vom 31. Dezember 1919: S. 1732. 31 Berichte aus den neuen Staaten, Nr. 247 bis 249 vom 31. Dezember 1919: „Allgemeine Wirtschaftspolitik. Gegen die Schaffung einer wirtschaftlichen Donauföderation“, S. 1731. 32 Berichte aus den neuen Staaten, Nr. 146 bis 148 vom 4. August 1919: „Zollunion“, S. 1019. 33 Ebenda, Nr. 239 bis 241 vom 19. Dezember 1919: „Die künftige Handelspoltik“, S. 1684. 34 Ebenda,Nr. 245 und 246 vom 29. Dezember 1919: „Zur Frage eines Wirtschaftsverbandes der Natio­nalstaaten“, S. 1719. 179

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