Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)

Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg

Gertrude Endcrle-Burcel es allerdings wieder zu einer Rückkehr in die traditionellen Absatzgebiete, da sich die Westorientierung als Fehlschlag erwiesen hatte21. Angesichts einer drastischen Lebensmittel- und Brennstoffknappheit kann man „von einer zielbewußten Handelspolitik der österreichischen Regierung“ bis lange nach dem Abschluß der Genfer Protokolle überhaupt nicht sprechen22. Es galt für Österreich, „die Nahrungsmittel und die Rohstoffe, die einzuführen waren, nicht durch Zölle zu verteuern und der übriggebliebenen Industrie, die auf den nun Aus­land gewordenen Markt exportieren mußte, um ihre Kapazität auch nur teilweise ausnützen zu können, diesen Markt freizuhalten“23. Hochschutzzölle sowie Ein- und Ausfuhrverbote seitens Österreichs hätten die protektionistischen Maßnahmen der Nachfolgestaaten nur noch verstärkt. So kann man im Falle Österreichs von einer - wenn auch nicht ganz freiwilligen liberalen Handelspolitik sprechen. Mit ein Grund für die Auffechterhaltung des Freihandels waren auch die handelspolitischen Be­stimmungen des Staatsvertrages von St. Germain. Die Pariser Vororteverträge schufen ein neues Bezugssystem, das zu Veränderun­gen der Wirtschaftsbeziehungen führte. Bei der Umschichtung der internationalen Investitionen und des Welthandels gewannen die Siegermächte vorteilhafte Positio­nen24. Für die Siegerstaaten, in deren Reihen auch die Tschechoslowakei offiziell aufgenommen worden war25, boten sich neue Möglichkeiten des Außenhandels. Österreichs handelspolitischer Spielraum hingegen wurde durch die Artikel 217— 220 des Staatsvertrages von St. Germain stark eingeschränkt. Die Artikel 217-219 verpflichteten Österreich, den alliierten und assoziierten Mächten auf die Dauer von fünf Jahren die einseitige Meistbegünstigung zu gewähren. Dies bedeutete für Öster­reich, daß es bis 1924 keine Schutzzölle einfiihren durfte. Während die Tschecho­slowakei, gestützt auf die Vororteverträge, ihre Industrieforderungspolitik mittels Schutzzölle in den zwanziger Jahren weiterführen konnte26. Artikel 222 von St. Germain und 205 von Trianon hatten zwar Sonderüberein­kommen auf die Dauer von fünf Jahren zwischen Österreich, Ungarn und der Tsche­Berger: Donauraum, S. 616; vgl. dazu auch Grüner, Wolf D.: „British Interest“ in der Zwischen­kriegszeit. Aspekte Britischer Europa-Politik 1918-1938. In: Gleichgewicht-Revision-Restauration. Die Außenpolitik der Ersten Tschechoslowakischen Republik im Europasystem der Pariser Vororteverträge, hrsg. von Karl Bosl. München-Wien 1976, S. 85-151, hier S. 134; Slama, Jirf: Die Außenhandelsbe­ziehungen der CSR mit Deutschland. In: Gleichgewicht-Revision-Restauration. Die Außenpolitik der Er­sten Tschechoslowakischen Republik im Europasystem der Pariser Vororteverträge, hrsg. von Karl Bosl. München-Wien 1976, S. 217-233, hier S. 217; Levit, Walter: Die wirtschaftliche Lage der Tschecho­slowakei seit dem Umsturz. Untersuchungen über die Besonderheiten, die in der Tschechoslowakei zu ei­ner verhältnismäßig großen Konjunktur einerseits und einer verschärften Krise andererseits geführt haben. Berlin-Wien-Zürich 1936, S. 82; Witt, Kurt: Wirtschaftskräfte und Wirtschaftspolitik der Tschechoslo­wakei. Leipzig 1938, S. 235. 22 S 1 a v i k, Gerhard: Der Außenhandel und die Handelspolitik Österreichs (1918 bis 1926). Leipzig 1928, S. 44. Drucker, Adolf: Außenhandel und Handelspolitik. In: 10 Jahre Nachfolgestaaten. Sonderausgabe zur 20-Jahrfeier des Österreichischen Volkswirtes. Wien 1928, S. 49-54, hier S. 49. 24 Teicho va : Sachzwänge, S. 123. 25 Slama: Außenhandelsbeziehungen, S. 217. T e i c h o v a : Aufbau der Wirtschaftsbeziehungen, S. 240. 178

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