Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)

Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg

Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg Tschechoslowakei waren in den Grundzügen so ähnlich, daß sie durchaus als Kon­kurrenten um Absatzmärkte im Donauraum anzusehen sind15. Die österreichische Handelspolitik war in der unmittelbaren Nachkriegszeit von der Beschaffung von Lebensmitteln, industriellen Rohstoffen und Brennstoffen, sowie von der Schaffung von Absatzmöglichkeiten für die überdimensionierten Sparten der Industrie geprägt. Die Notwendigkeit des Exportes der industriellen Güter wird allgemein mit 70 Prozent der österreichischen Produktion angenommen. Weitere Schwierigkeiten beim Aufbau des österreichischen Außenhandels stellten protektionistische Maßnahmen zum Aufbau der unterentwickelten Landwirtschaft dar, bzw. Schutzmaßnahmen für jene Industriezweige, die nach dem Ende der Mon­archie ungenügend entwickelt waren, wie etwa die Baumwollweberei16. In der Tschechoslowakei war zwar die landwirtschaftliche Basis um vieles besser, doch reichte auch sie für eine Selbstversorgung mit Nahrungsmittel nicht aus. Die Tschechoslowakei war, wenn auch im wesentlich geringeren Ausmaß als Österreich, auf Lebensmittelimporte angewiesen17. Wie in Österreich mußten auch in der Tsche­choslowakei Absatzmärkte für eine überdimensionierte Industrie gesichert und Roh­stoffe beschafft werden. Die Industrieproduktion war in manchen Branchen bis zu 80 Prozent auf den Export angewiesen18. Trotz der reichen Kohlenvorkommen kam es auch in der Tschechoslowakei zeitweise zu Versorgungsengpässen bei Kohle. Wie alle anderen Nachfolgestaaten versuchte auch die Tschechoslowakei, die Dispropor­tion ihres Wirtschaftsgefüges durch protektionistische Maßnahmen zu beseitigen. Trotz der protektionistischen Maßnahmen nahmen die Nachfolgestaaten - Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, Rumänien - einen bedeutenden, wenn auch bei der Ausfuhr Österreichs ständig sinkenden Anteil ein19. Die traditionellen Handelsströme erwiesen sich im Falle des österreichischen Außenhandels aber stabi­ler als bei der Tschechoslowakei. Grundsätzliche Erwägungen führten in der Tsche­choslowakei zum Konzept der außenhandelspolitischen „Umorientierung nach We­sten“. Eine verstärkte Anlehnung an die Entente, besonders an Frankreich führte zu einem 36-prozentigen Rückgang des Anteils der Nachfolgestaaten an der tschecho­slowakischen Ausfuhr in den Jahren 1920 bis 192520. Mitte der zwanziger Jahre kam 15 Zur Fragestellung, auf welchen Gebieten Österreich und Tschechoslowakei Konkurrenten oder Partner waren, sind umfangreiche Forschungen fiir die nahe Zukunft geplant. Vgl. dazu Teichova, Alice: Die wirtschaftspolitische Rolle Österreichs in Mitteleuropa der Zwischenkriegszeit, ungedruckter Endbericht eines Forschungsprojektes „Die wirtschaftliche Rolle Österreichs im Mitteleuropa der Zwischenkriegs­zeit“. Wien 1992, S. 85 f. Das Projekt wurde fortgesetzt und findet 1997 einen Abschluß. 16 Vgl. dazu B e r g e r : Donauraum, S. 185 f. 17 Zu dem amerikanischen Lebensmittelkredit vgl. B e r i c h t e aus den neuen Staaten, Nr. 87 bis 89 vom 31. Mai 1920: „Die Handelsbilanz in den ersten zehn Monaten 1919“, S. 647; Nr. 90 bis 92 vom 10. Juni 1920: „Handelspolitik, Dr. Englis über die Reorganisation des Außenhandels“, S. 671. 18 Berichte aus den neuen Staaten, Nr. 116 und 117 vom 25. Juni 1919: „Ein großes Zollge­biet - die Rettung unserer Industrie“, S. 813. 19 Berger: Donauraum, S. 188. 20 Ebenda,S.211. 177

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