Sonderband 3. „wir aber aus unsern vorhero sehr erschöpfften camergeföllen nicht hernemben khönnen…” – Beiträge zur österreichischen Wirtschafts- und Finanzgeschichte vom 17. bis zum 20. Jahrhundert (1997)
Gertrude Enderle-Burcel: Zwischen Kontinuität und Wandel: Die österreichisch-tschechoslowakischen Wirtschaftsbeziehungen nach dem Ersten Weltkrieg
Gertrude Enderle-Burcel wakei und 30 Prozent in Österreich7. So günstig diese Ausgangsbedingungen auch waren, mußten beide Länder zunächst mit den Nachkriegsproblemen, die hier nur kursorisch aufgezählt werden können, fertig werden. Territoriale Neuordnung, zerstückelte Eisenbahnlinien, veralteter und reduzierter Fuhrpark, zerstörter Schiffsraum, Umstellung von Kriegs- auf Friedensproduktion, Währungsschwierigkeiten, Kapitalmangel, Wirtschaftsnationalismus sind nur einige dieser Probleme. Für die Siegermächte blieben die neuentstandenen Staatengebilde aber eine Einheit im Bezug auf ihre Wirtschaftsinteressen8. Für Österreich schienen die Nachkriegsprobleme so unüberwindlich, daß es zu einer umfangreichen Diskussion um die ökonomische Lebensfähigkeit gekommen war9, und damit im Zusammenhang zu einer starken, von allen politischen Parteien getragenen Anschlußbewegung an das Deutsche Reich. Im Gegensatz dazu bestand in der Tschechoslowakei ein starkes Vertrauen in die eigene politische und wirtschaftliche Zukunft10 11 12. Das Ende der Monarchie bedeutete sowohl für Österreich als auch für die Tschechoslowakei den Verlust des sicheren Binnenmarktes“. In der ersten Hälfte der zwanziger Jahre zeigte sich allerdings noch ein gewisses Beharrungsvermögen der ehemaligen Wirtschaftseinheit, über dessen Größenordnung sich in der Literatur recht unterschiedliche Einschätzungen finden17. In dieser Zeit betrug der Handel zwischen den Nachfolgestaaten noch immer mehr als die Hälfte ihres Außenhandels. Der Ausbau der traditionellen Handelsbeziehungen zwischen den Industrie- und Agrarländern in Mittel- und Osteuropa wäre zwar möglich gewesen, doch zeigte sich ab Mitte der zwanziger Jahre eine Abnahme der wechselseitigen Handelsbeziehungen der Industriestaaten Österreich und Tschechoslowakei13. Eine langsame Umschichtung im Außenhandel Österreichs und der Tschechoslowakei von den „angestammten“ Absatzmärkten im Donauraum zu außereuropäischen Märkten war mit eine Ursache dafür gewesen14. Die Wirtschaftsstrukturen Österreichs und der 7 Teichova, Alice: Der Aufbau der Wirtschaftsbeziehungen Österreichs zu den Folgestaaten 1918-1926. Vom geschützten Binnenmarkt zur Konkurrenz am Weltmarkt. In: Economy, Society, Historiography, hrsg. von Ferenc Glatz. Budapest 1989, S. 237-253, hier S. 238. 8 Teichova: Aulbau der Wirtschaftsbeziehungen, S. 237. 9 Vgl. dazu etwa Berger, Peter-Robert: Der Donauraum im wirtschaftlichen Umbruch nach dem Ersten Weltkrieg. Währung und Finanzen in den Nachfolgestaaten Österreich, Ungam und Tschechoslowakei 1918-1929. Bd. 1. 2. Wien 1982, Bd. 2, S. 556-582. 10 Bloomfield, Jonathan: Surviving in a Harsh World: Trade and Inflation in the Czechoslovak and Austrian Republics 1918-1926. In: Die Erfahrungen der Inflation im internationalen Zusammenhang und Vergleich, hrsg. von Gerald D. Feldman, Carl-Ludwig Holtfrerich, Gerhard A Ritter und Peter-Christian Witt. Berlin-New York 1984, S. 228-269, hier S. 232. 11 Teichova, Alice: Kleinstaaten im Spannungsfeld der Großmächte. Wien 1988, S. 19. 12 Teichova: Aulbau der Wirtschaftsbeziehungen, S. 237; Matis, Herbert: Disintegration and multinational enterprises in Central Europe during the post-war years 1918-1923. In: International Business and Central Europe, hrsg. von Alice Teichova und Phili L. Cotrell. Leicester-New York 1983, S. 73-100, hier S. 93. Matis betont das Beharrungsvermögen mehr als Teichova. 13 Teichova: Sachzwänge, S. 133 f. 14 Teichova: Aufbau der Wirtschaftsbeziehungen, S. 243. 176