Leopold Auer - Manfred Wehdorn (Hrsg.): Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv (2003)
Leopold Auer - Manfred Wehdorn: Einleitung
Einleitung 11 Gedächtnis, kontrollieren es und üben damit eine wichtige Funktion für die Erhaltung des mentalen Gleichgewichts und der mentalen Gesundheit einer Gesellschaft aus. Denn immer wieder - und unsere Gegenwart liefert wahrlich genügend Beispiele dafür - können wir beobachten, wie Gedächtnisverlust und Verdrängung nicht nur für den einzelnen, sondern auch für eine Gesellschaft insgesamt zu schwerwiegenden negativen Folgen führen. Man kann zweifellos ohne Übertreibung sagen, daß das Haus-, Hof- und Staatsarchiv als eines der großen Archive internationaler Bedeutung zu den angesehensten und bekanntesten Institutionen seiner Art gehört und unter ihnen einen besonderen Platz einnimmt. Schriftlicher Niederschlag und Überrest vergangener Tätigkeit wie alle Archive stellt es durch den Wert und die Vielfalt seiner Bestände einen Teil des kollektiven kulturellen Gedächtnisses nicht nur Österreichs und Europas, sondern der Menschheit überhaupt dar, wie es etwa die Unesco in ihrem Programm „Memory of the World" zum Ausdruck bringt. Seit den Zeiten eines Leopold von Ranke oder Joseph von Hammer-Purgstall ist das Haus-, Hof- und Staatsarchiv dementsprechend Gelehrten aus aller Welt, die sich mit retrospektiver Forschung beschäftigen, ein Begriff. Deren auf den Beständen des Archivs beruhende Forschung hat es in besonderem Maße zu einer jener Einrichtungen gemacht, die zum kulturellen und wissenschaftlichen Ansehen Österreichs beitragen, was gerade für die Wahrnehmung eines kleinen Landes von nicht zu unterschätzender Bedeutung ist. Durch die auf seinen Materialien beruhenden Veröffentlichungen und durch seine Beteiligung an nationalen und internationalen Ausstellungen erreicht das Haus,- Hof und Staatsarchiv mittelbar ein weltweites Publikum, das in die Millionen geht. Es hat damit in seinem Bereich und nach seinen Möglichkeiten dieselbe Funktion, die andere Institutionen wie Staatsoper, Kunsthistorisches Museum, Nationalbibliothek oder Albertina in ihren Bereichen erfüllen. Die Bedeutung des Archivs beruht auf dem Umfang und der Vielfalt seiner Bestände, die ihrer zeitlichen Erstreckung nach von den Karolingern bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg reichen. Durch die Ausdehnung der habsburgischen Herrschaft und die weltumspannenden Beziehungen ihrer Repräsentanten erstreckt sich dieses archivali- sche Erbe in geographischer Hinsicht praktisch auf alle Kontinente. Frühe Nachrichten aus der Neuen Welt gehören ebenso dazu wie diplomatische Berichte aus dem Fernen Osten oder Aufzeichnungen von Forschungsreisenden. Kern- und Herzstück bleibt freilich das schier unerschöpflich scheinende Quellenmaterial zur Geschichte der europäischen Mitte einschließlich ihrer Beziehungen zum Mittelmeerraum, zu Südosteuropa und zum Nahen Osten. Im Katalogteil des vorliegenden Bandes soll eine Vorstellung von Vielfalt und Bedeutung dieses Materials vermittelt werden. Seit die Archive im 19. Jahrhundert als bevorzugte Grundlage historischer Forschung entdeckt wurden, hat dieses Material ohne Unterbrechung Generationen von Forschern in seinen Bann gezogen. Nach den Zeiten eines Leopold von Ranke, Joseph von Hammer-Purgstall oder Alfred von Arneth haben das Ende des Ersten Weltkriegs und der Zusammenbruch der Habsburgermonarchie das Haus-, Hof- und Staatsarchiv in noch größerem Maß der internationalen, nicht zuletzt angelsächsischen Forschung geöffnet, die verstärkt von der Möglichkeit Gebrauch machte, Archivbestände aus anderswo noch gesperrten Perioden einzusehen. Trotz schwieriger Zeitumstände ist das Haus am Minoritenplatz in der Zwischenkriegszeit dadurch zu einem bevorzugten Treffpunkt internationaler historischer Forschung von Karl Brandi bis William Langer geworden; in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg kann die Liste prominenter Gelehrter durch Namen wie Max Braubach, Robert Kann, Victor-Lucien Tapié, Paul W. Schroeder, Karl Otmar von Aretin oder Robert W. Evans ergänzt werden. In thematischer Hinsicht liegen die Schwerpunkte des Interesses seit der weitgehenden Öffnung des Archivs durch Alfred von Arneth 1868 auf der Geschichte der Habsburgermonarchie und des Heiligen Römischen Reiches, für deren Erforschung die