Leopold Auer - Manfred Wehdorn (Hrsg.): Das Haus-, Hof- und Staatsarchiv (2003)
Leopold Auer - Manfred Wehdorn: Einleitung
12 Einleitung Bestände des Haus-, Hof- und Staatsarchivs eine unverzichtbare Grundlage darstellen - Leopold von Ranke hat deshalb in einem Brief an Arneth vom Haus-, Hof- und Staatsarchiv als von dem für die deutsche Geschichte (gemeint war damit die Geschichte des Alten Reiches) wichtigsten Archiv gesprochen. Ebenso gilt auch für manche Bereiche und Perioden der Geschichte Italiens, des Balkans oder des Nahen Ostens (z.B. Palästinas), daß sie ohne die reichen Bestände des Haus-, Hof- und Staatsarchivs nicht geschrieben werden könnten. Die Nutzung archivalischer Quellen setzt entsprechende Maßnahmen zu ihrer Erhaltung und Erschließung voraus, die ihrerseits eines geeigneten institutioneilen Rahmens und vor allem ausreichender finanzieller Mittel bedürfen. Von einem ebenso kostbaren wie kostspieligen Erbe hat Bundespräsident Karl Renner 1949 bei der Feier zum zweihundertjährigen Bestehen des Archivs gesprochen. Die Entscheidung, wie hohe Kosten man bereit ist, für die Bewahrung eines solchen kostbaren Erbes aufzubringen, sagt ihrerseits sehr viel über die Bedeutung aus, die eine Gesellschaft ihrer Vergangenheit oder Vergangenheit überhaupt beimißt, wobei man selbstverständlich auch den materiellen Wert von Kulturgütern in Rechnung stellen muß, der sie zu allen Zeiten bis in unsere Gegenwart immer wieder zu begehrten und, im wahrsten Sinne des Wortes, zu umkämpften Objekten gemacht hat. Unter diesem Aspekt kann man die Geschichte des Haus-, Hof- und Staatsarchivs auch als eine Abfolge von Zeiten des Aufstiegs und der Bedrohung sehen, die einander seit seiner Gründung durch Maria Theresia mehrfach abgewechselt haben. Auf die Gründung, die im Rahmen der Bemühungen der Kaiserin um eine Reform der Monarchie zu sehen ist, folgte eine erste Phase des Aufbaus und der Ausgestaltung mit der Übernahme der Bestände der alten Schatzgewölbearchive. Die Franzosenkriege führten zur Verschleppung großer Teile des Archivs nach Paris, wo Napoleon ein europäisches Zentralarchiv riesigen Ausmaßes schaffen wollte. Umgekehrt brachte die Auflösung des Heiligen Römischen Reiches den Anfall großer Mengen von Archivalien; in der Zeit des Vormärz sollte das Haus-, Hof- und Staatsarchiv zu einem Zentralinstitut der für die Geschichte des Staates wichtigen Dokumente ausgebaut werden. Der Zerfall der Habsburgermonarchie mit dem Ende des Ersten Weltkriegs stellte durch die Forderungen der Nachfolgestaaten die Existenz der Institution in Frage, doch gelang es in zähen Verhandlungen und trotz bedeutender Verluste im einzelnen die Substanz der Bestände zu retten. Einen nicht minder wichtigen Einschnitt, allerdings in positiver Hinsicht, bedeutete der in der Spätzeit Kaiser Franz Josephs gefaßte Beschluß, für die Archivbestände am Minoritenplatz im Anschluß an das Ministerium des Äußern und des kaiserlichen Hauses, also sozusagen im Zentrum der Macht, einen ebenso monumentalen wie für die Zeit der Errichtung hochmodernen Zweckbau zu errichten, der gleichermaßen ein kulturelles wie technisches Denkmal ersten Ranges darstellt. Ein Jahrhundert später wurde dieser Bau durch den politischen Willen der österreichischen Bundesregierung einer umfassenden Sanierung und Restaurierung unterzogen und damit ein Zeichen für die Bedeutung gesetzt, die dem Bau wie dem von ihm beherbergten kulturellen Erbe auch auf politischer Ebene zuerkannt wird. Das Gebäude am Minoritenplatz in Wien, in dem das Haus-, Hof- und Staatsarchiv seit 1902 untergebracht ist, zählt auch als Bauwerk zu den bedeutendsten technischen Denkmälern Europas. Aus gestalterischer Sicht bildet es eine Verlängerung der „Geheimen Hofkanzlei", des heutigen Bundeskanzleramts, deren barocke Fassadenkonzeption beim Neubau unverändert übernommen worden war. Während das Äußere also von der herkömmlichen Formensprache des Historismus gekennzeichnet ist, findet sich im Inneren einer der für die Jahrhundertwende modernsten Archiveinbauten - im Sinne des damaligen unerschütterlichen Glaubens an die „Feuersicherheit" des