Gudrun Bohle: Die Frage der Läuterung im Alten Testament - Studia Theologica Budapestinensia 20. (1998)
II. - II.1. Jesaja 6,1-11
genau zu umschreiben39. Wir haben bis zum heutigen Zeitpunkt zu wenig Anhaltspunkte, um den Kult im Jerusalemer Tempel in der vorjesajanischen Zeit zu beschreiben. Der Großteil der Dokumente über diesen Zeitabschnitt stammt aus einer späteren Zeit und spiegelt den zur Zeit der Abfassung geübten Kult auf frühere Zeiten zurück.40 41 Es ist damit zu rechnen, daß der Kult in Jerusalem vielfältige Anleihen im kanaanäischen Kult gemacht hat; denn Jerusalem war bereits ein Kultort, bevor David es zur Hauptstadt gemacht hat und bevor das israelitische Heiligtum der Lade in Jerusalem Einzug gehalten hat. Jesaja hat zwar Verbindungen mit dem Kult gehabt, vielleicht auch hat er im Tempel gedient44; es ist aber nicht davon auszugehen, daß er zur Gruppe der Kultpropheten gehört hat.42 So hatte er in seiner Verkündigung eine größere Freiheit: wenn er Begriffe und Vorstellungen aus dem Kult verwendet hat, ist es durchaus möglich, daß sie bei ihm einen anderen und neuen Sinn bekommen haben.43 39 vgl. R.Albertz, Religionsgeschichte Israels, Band 1,1992, S. 200-207 als Darstellung des Hintergrundes der Entwicklung im Jerusalemer Kult. 40BJanowski, Sühne als Heilsgeschehen, 1982,, S.180-181. Im Zusammenhang mit der kultischen Sühnetheologie der Priesterschrift und ihr verwandter Schriften versucht B.Janowski, vorexilische Wurzeln aufzuspüren, und kommt dabei auch auf Jes.6 zu sprechen: “Obgleich sich in vorexilischen Texten die Darbringung eines Sühnopfers nicht nachweisen läßt (...), so ist doch die Vorstellung, daß der (Jerusalemer) Tempel der Ort des Sühnevollzuges ist, schon für die vorexilische Zeit durch Jes. 6,Iff zu belegen." Allerdings fugt er später hinzu: “Von 'vorexilischen Wurzeln' der späteren Sühnetheologie oder von einem kult- und traditionsgeschichtlichen Anknüpfungspunkt an vorexilische Gegebenheiten wird man ... nicht sprechen können. " 41 O.Kaiser, ATD 17, 31970, S. 59: “Seine [Jesajas] durchgehende Vertrautheit mit den kultischen Traditionen seines Volkes könnte damit rechnen lassen, daß er bereits zur Zeit seiner Berufung in irgendeiner Weise zum Tempelpersonal gehörte. " 42 vgl. dazu: J.Jeremias: Kultprophetie und Gerichtsverkündigung in der späten Königszeit Israels, 1970, besonders das abschließende Kapitel S.194ff. zum Unterschied der Kultpropheten von den Unheilspropheten. 43 vgl. B.Janowski , Sühne als Heilsgeschehen, 1982, S. 127. Janowski zählt als Beispiele für die Verwendung herkömmlicher Kultvorstellungen, die aber das Schema des Herkömmlichen durchbrochen haben, auf: die “alles menschliche Vorstellen überschreitende Dimensionierung der göttlichen Heiligkeit und Majestät...", der “eine kultisch-liturgische Begehung transzendierende, hymnische 37