Gudrun Bohle: Die Frage der Läuterung im Alten Testament - Studia Theologica Budapestinensia 20. (1998)
I. Einleitung - Begriffliche Klärung von "Läuterung" - I.5. Grundstruktur
1.5.1.1. Das Idealbild des Verhältnisses zwischen Gott und Mensch. Es ist für den Vorgang und für die Ankündigung von Läuterung ganz wesentlich, daß der Mensch vom gegenwärtig Erfahrenen abstrahieren kann und sich ein Bild eines idealen Verhältnisses zwischen Gott und Mensch machen kann. "Der Mensch" heißt nun freilich nicht, daß jeder Mensch oder das Volk als ganzes immer dazu fähig ist oder sein muß. Oft ist es auch ein Prophet, der dieses Wissen hat oder von Gott bekommt. Es braucht dazu in irgendeiner Form eine Gotteserfahrung. Dabei kann dieses Idealbild sich an der Vergangenheit orientieren; es kann eine Erfahrung, z.B. eine Vision, in der Gegenwart sein; und diese bezieht sich in der Regel dann auf die Zukunft. Dieses Idealbild beinhaltet zwei Pole: eine Erkenntnis über Gott und eine Erkenntnis über die Folgen für den Menschen. a) Das Gottesbild. Gott wird erfahren als der Heilige, als der Majestätische, als der in der Geschichte Wirkmächtige. Er steht über all dem Widrigen, was in der momentanen Situation erfahren wird. So geht von ihm eine anziehende Kraft aus. b) Die Verheißungen für den Menschen. Eine solche Gotteserfahrung kann für den Menschen Gericht und Vernichtung oder Heil und Rettung bedeuten. Sie bleibt jedenfalls nicht ohne Wirkung auf den Menschen. Im Kontext von Läuterung sind beide Möglichkeiten gegeben. Gericht kann die derzeit erfahrene Wirklichkeit sein oder auch eine Drohung; es kann aber nicht zu einer Läuterung kommen, wenn es nicht gleichzeitig auch einen Ausblick auf Heil gibt. Die Heiligkeit und Macht Gottes muß Verheißungen für den Menschen in sich bergen. 1.5.1.2. Störung dieses Idealverhältnisses. Ebenso wesentlich gehört aber zum Prozeß der Läuterung die negative Seite dazu: Dieses ideale Verhältnis ist in der momentanen Wirklichkeit gestört. Unreinheit und Schuld sind stärker bzw. werden stärker empfunden als die Heiligkeit Gottes. 26