Folia Theologica 16. (2005)

Bronisław Wenanty Zubert: Die Bedeutung der Klausel "Si puella apparet cognita" in der Kanonistik des ausgehenden Mittelalters

232 B. W. ZUBERT I. Normative Grundlagen der Klausel »Si puella apparet cognita« Die erste, wie es scheint, amtliche normative Grundlage der obi­gen Klausel und der von ihr abgeleiteten Präsumtion stellte die De- kretale Continebatur in litteris tuis (X 4. 2. c. 6) dar, die Papst Alexan­der 111. in den Jahren 1173-76 an den Erzbischof von Trani gerichtet hat1. Der Bischof hatte um die Lösung der Streitfrage im Falle einer Ehe zwischen einem volljährigen Mann und einem minderjährigen Mädchen gebeten (eine solche Verbindung nannte man matrimoni­um inter inaequales). Zwar war die Braut bereits in das Haus des Bräutigams eingezogen (die sog. traductio), wandte sich aber, nach­dem sie die juristische Reife erlangt hatte, an den Bischof mit der Bitte um die Erlaubnis, einen anderen Mann heiraten zu dürfen; sie begründete ihre Bitte mit der Behauptung, dass sie dieser Verbin­dung nie zugestimmt habe. In seinem Antwortschreiben betont der Papst, dass gemäß verschiedener Dekrete (in decretis habeatur)2 die Aussage des Mannes, der behauptet, er habe mit seiner Frau die Ehe vollzogen, als glaubwürdig betrachtet werden muss, selbst wenn von der die Frau das Gegenteil behauptet wird. Daher müsse auch im vorliegenden Falle dem beeidigten Geständnis des Man­nes, er habe mit dieser Frau geschlechtlich verkehrt, Glauben ge­schenkt werden. Wenn die Frau damals nahe an der juristischen Reife war (aetati proxima), d. h. das elfte Lebensjahr vollendet hatte, bzw. schon 12 Jahre alt war, der Verlobung zugestimmt und mit dem Mann geschlechtlich verkehrt hatte, dann könne eine solche Ehe nicht für nichtig erklärt werden3. 1 Regesta Pontificium Romanorum ab condita Ecclesia ad annum post Chri­stum natum MCXCVlll II9S, PM. JAFFÉ. G. WATTENBACH, S. LOEWEN- FELD, F. KALTENBRUNNER. P. EWALD (Hg.), Graz 1956 (Nachdruck der Ausgabe Lipsiae 18852; im weiteren zitiert als J L), 14032 = W H 204. Vgl. W. HOLZMANN. Kanonistische Ergänzungen zur Italia Pontificia, Quellen und Forschungen (=W II) 38(1958)144. 2 Der Autor der Marginalglosse zu dieser Dekretale, die in der Ausgabe Decre­tales D. Gregorii papae IX, Romae 1582 zu Finden ist, beruft sich auf das zeitlich viel frühere Dekret Burchards L, des Bischofs von Worms, und auf das Dekret des Ivo von Chartres. 3 X 4. 2. 6: „Continebatur in litteris tuis, quod, quum quaedam puella infra nu­biles annos cuidam viro in uxorem tradita fuerit, et ab ipso traducta [...] haec, ad nubiles annos perveniens, alii nubendi licentiam postulavit, asserens, se in

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