Folia Theologica 16. (2005)
Otto Schwankl: Monotheismus im Neuen Testament
160 O. SCHWANKL menhängt. Hier stoßen wir auf die Wurzeln der christologischen Reflexion. Ihr „Primärfaktor"22 ist der Mensch Jesus von Nazareth. Gesteuert wird sie durch die Erfahrung(en), die seine Zeitgenossen im Umgang mit ihm „gemacht" haben. Es waren starke, aber zunächst noch unbestimmte Erfahrungen und Eindrücke: ebenso faszinierend wie irritierend. Die Synoptiker beschreiben das häufig mit Verben des Staunens. Die Menschen sind fassungslos; sie wundern und fürchten sich23. Es ist ein Naturgesetz, daß solche Erfahrungen nach Erklärungen rufen und sich einen sprachlichen Ausdruck suchen. Die gesamte Christologie von den Anfängen bis heute, einschließlich der christologischen Streitigkeiten und der Trinitätstheologie, ist der unablässige Versuch, die Jesus-Erfahrung in Worte zu fassen und dem Eindruck, den er hinterlassen hat, angemessen Ausdruck zu geben. Wenn man ein Erlebnis noch nicht ein- ordnen kann, sind die ersten Äußerungen meistens Fragen. So ist es auch beim Auftreten Jesu, tèotiv toûto fragen in Mk 1,27 „alle" nach seinem ersten Synagogenbesuch in Kapharnaum: „Was ist das?", „was bedeutet das?"; und in 4,41 fragen die Jünger: „Wer ist denn dieser?" Damit ist die christologische Urfrage gestellt, in der das, was man das „Persongeheimnis" Jesu nennen könnte24, bereits enthalten ist, jedoch nicht als klare Erkenntnis, sondern als dunkle Ahnung. Den Menschen, die Jesus begegnen, tritt etwas Fremdes, Anderes, entgegen, etwas Höheres oder Tieferes, etwas Jenseitiges, Äußer-Menschliches, Transzendentes; etwas Machtvolles, Überwältigendes. Es fragt sich nur, welcher Art dieses „Andere" ist. Die historisch orientierte Forschung sagt einhellig, daß Jesus auf diese christologische Frage keine ausdrückliche, eindeutige Antwort gegeben hat. Joachim Kügler spricht daher von der „Nichtka22 So F. MUSSNER, Ursprünge und Entfaltung der neutestamentlichen Sohneschristologie. Versuch einer Rekonstruktion, in: DERS., Jesus von Nazareth im Umfeld Israels und der Urkirche. Gesammelte Aufsätze (WUNT 111), Tübingen 1999, 152-189, 163 Anm. 32. 23 Einschlägige Verben sind ÉKiTÀtjaaeo0ai (Mk 1,22; Mt 7.28 u.a.), 0a|ißeio0ca (Mk 1,27; vgl. Lk 5,9), êÇiaTKoècci (Mk 2,12; Mt 12,23; Lk 8,56 u.a.), 0ai>n<xieiv (Mk 5,20; Mt 8,27; Lk 4,22 u.a.) und (poßeio0ai (Mk 4,41; 5,15; 9.32; 10,31). 24 Vgl. W. TRILLING, Fragen zur Geschichtlichkeit Jesu. Düsseldorf J1969, 162-171.