Folia Theologica 15. (2004)

Helmuth Pree: Das Gewissen vor dem Forum des Kirchenrechts

98 H. PREE sichtigt alle Umstände des Einzelfalles und ist daher automatisch ein Billigkeitsurteil. Auch das Recht muss in die Bildung des sittli­chen Handlungsurteils einbezogen werden. Verantwortliches menschliches Handeln muss den Mitmenschen wie auch die ge­meinschaftlichen bzw. öffentlichen Wirkungen des eigenen Verhal­tens in Rechnung stellen. Die Befolgung des Rechts ist Vorausset­zung und Ausdruck der Solidarität mit der Gemeinschaft. Die Be­folgung des Rechts wird daher im Regelfall auch eine Anforderung im Gewissen darstellen. Nur mit dieser Maßgabe, d.h. auf Grund der Einsicht in die Wahrheit im Einzelfall, erzeugt auch das Recht Gewissensverbindlichkeit. Man könnte die über Rechtsnormen er­kannte sittliche Wahrheit im Einzelfall - analog zur moralischen Wahrheit - als Rechtswahrheit bezeichnen. 3. Der Unterschied im Hinblick auf die Lösung des Einzelfalles Das Recht ist seinem Wesen nach auf die gemeinschaftliche, öf­fentliche Dimension des Handelns und auf die öffentliche, für alle Rechtsgenossen prinzipiell gleiche Anwendbarkeit angelegt. Es wirkt daher notwendigerweise generalisierend und vergröbernd, sodass die individuelle Lagerung des Einzelfalles prinzipiell nicht zur Gänze berücksichtigt werden kann. Dem gegenüber muss die moralische Beurteilung und Entscheidung alle Umstände des Ein­zelfalles berücksichtigen. Außerdem steht das moralische Urteil nicht unter dem Anspruch einer formalen Gleichheitsanforderung, sondern unter dem Anspruch, dem Individuell-Konkreten des Ein­zelfalles vollständig gerecht zu werden. Zur Bewältigung dieser Spannung hat die Kanonistik seit alters mehrere Elastizitätsinstru­mente6 entwickelt, namentlich die Unterscheidung zwischen forum externum und forum internum (siehe im folgenden 4), die aequitas ca­nonica als Prinzip der Auslegung und der Anwendung kirchlicher Gesetze, die Dispens, das Aufhören der Gesetzesverpflichtung bei Unmöglichkeit (impossibilium nulla est obligatio)7, die Toleranz und 6 P. ERDŐ, Theologie des kanonischen Rechts. Ein systematisch-historischer Versuch, Münster 1999, 177-185; H. PREE, Le tecniche canoniche diflessibi- lizzazione del diritto. Possibilità e limiti ecclesiali di impiego, in Ius Eccle­siae 12 (2000) 375-418. 7 RJ 6 in VI0.

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