Folia Theologica 15. (2004)

Helmuth Pree: Das Gewissen vor dem Forum des Kirchenrechts

DAS GEWISSEN VOR DEM FORUM DES KIRCHENRECHTS 103 Dies betrifft z. B. Umwandlung oder Befreiung von Gelübdever­pflichtungen einschließlich von Privatgelübden, Dispens von der Zölibatspflicht. Bei solchen kirchlichen Rechtsakten, die pauschal als Dispens bezeichnet werden, ist allerdings ein rechtlich konstitu­tiver Aspekt enthalten: Die Beseitigung der Rechtswirkungen der bislang bestehenden rechtlichen Bindung vor der Rechtsgemein­schaft (z.B. wird der Laisierte von den Pflichten als Kleriker entbun­den und nunmehr wie ein Laie behandelt).14 15 Bei der Feststellung der Voraussetzungen des kirchlichen Ho­heitsaktes muss sich hier, da es entscheidend um die moralische Wahrheit für den Betroffenen geht, die Kirche auf das sorgfältig ge­bildete Gewissensurteil des Einzelnen verlassen. Damit sind gewiss Gefahren einer subjektiven Selbsttäuschung nicht von der Hand zu weisen. Das gegebenenfalls in Kauf zu nehmen, wiegt jedoch weni­ger schwer im Vergleich zu dem Nachteil, wenn es bedeuten wür­de, wenn die Kirche in all diesen Fällen nach Maßstäben äußerer rechtlicher Kontrollierbarkeit anstatt unter Berücksichtigung der Gewissenslage des Einzelnen vorginge.16 Würde die Kirche ohne entsprechenden Grund, d.h. obwohl die Gewissensbindung noch lebbar ist und die moralischen Kräfte nicht überschritten werden, gleichwohl leichtfertig dispensieren, so wäre dies Mitwirkung an der Schuld des Betroffenen. Wo aber die Bin­dung ehrlicherweise die moralischen Kräfte des Betroffenen über­steigt und daher nicht mehr lebbar ist, muss man fragen, ob nicht hier in allen ähnlich gelagerten Fällen eine Art kirchlicher Toleranz, die Ermöglichung eines Neuanfangs, um trotz Scheiterns in Frie­den mit der Kirche leben zu können, im Sinne Jesu nicht nur er­14 K. DEMMER, Das Verhältnis von Recht und Moral im Licht kirchlicher Dis­penspraxis, in Gregorianum 56 (1975) 681-731, 713-715. 15 In jenen Fällen, in denen rechtliches Handeln der Kirche nur deklarativ sein kann (Feststellung, dass die iure divino begründete Verpflichtung bereits ent­fallen ist), wird von unechter Dispens gesprochen. Vgl. cc. 688 § 2; 691 § 1; 692; 1194; 1196; 1203 CIC; vgl. J LEDERER, Der Dispensbegriff des kano­nischen Rechtes unter besonderer Berücksichtigung der Rechtssprache des CIC, München 1957, 89-113 und 152-154; E. BAURA, La dispensa canonica dalla legge, Milano 1997, 157-164. 16 K. DEMMER, Moraltheologie und Kirchenrecht, in J RÖMELT - B. HID- BER (Hg.), In Christus zum Leben befreit (Häring-FS), Freiburg-Basel-Wien 1992, 352-366, 357-361.

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