Folia Theologica 11. (2000)

Peter Henrici: Die Enzyklika zum dritten Jahrtausend. Fides et ratio

16 P. HENRICl nicht leicht zu verstehen. Ich kann diese Antwort mit einer Feststellung Maurice Blondeis geben: Der Philosoph arbeitet im Keller, er befasst sich mit den Fundamenten der Gesellschaftsordnung. Dem Papst geht es bei seiner Analyse beileibe nicht um eine akademische Frage, auch nicht um das zwar wichtige, aber doch recht nebensächliche Problem, wie in den katholischen Hochschulen eine bessere Philosophie gelehrt werden könne. Es geht ihm, auch und gerade in dieser Enzyklika, um den Men­schen, um seine Zukunft und um die Situation der Welt, in der er leben muss. Und da sieht der Papst, dass ein grosser Teil der Welt und ein gro­sser Teil der Menschheit daran krankt, dass ihnen die Wahrheit fehlt. Wahrheit ist ein Lieblingswort des Papstes; er hat es in den Titel sei­ner „Herzensenzyklika” Veritatis splendor aufgenommen. Wahrheit nicht bloss und nicht vor allem als Grundwort der Philosophie; sondern als rechte Sicht auf die Welt und den Menschen, auf Welt und Mensch, so wie Gott sie will und sieht. Darum hat die Wahrheit für Johannes Paul II. immer eine christologische Dimension: „Tatsächlich klärt sich nur im Ge­heimnis des fleischgewordenen Wortes das Geheimnis des Menschen wahr­haft auf’ zitiert er gern und immer wieder aus Gaudium et Spes (nr. 22; zi­tiert in Fides et Ratio nr. 12, nr. 60). Wenn Papst Wojtyla von der Wahrheit spricht, dann denkt er an die Wahrheit des Menschen, an seine letzten Le­benssinn, und darin und darum an Jesus Christus - an „die Wahrheit, die Christus ist”, wie es einmal in einer kühnen Formel heisst (nr. 92). VI. So beginnen wir zu verstehen, dass die Enzyklika ein Wort zur Jahr­tausendwende sein kann. Sie hält nicht nur Rückblick auf zweitausend Jahre Geschichte der Erhellung und der Verdunkelung der christlichen Wahrheit. Sie leidet mit an der „Wahrheitsvergessenheit” unserer Gegen­wart, die auch (und vielleicht vor allem) einen Verlust an Lebenssinn be­deutet. Die philosophische Frage, so die Enzyklika, ist in erster Linie eine Frage nach dem Lebenssinn: „Die Wahrheit stellt sich beim Men­schen anfangs in Frageform vor. Hat das Leben einen Sinn? Wohin führt es?” Mit diesem fast wörtlichen Blondelzitat setzt im dritten Kapitel der eigentlich philosophische, systematische Teil der Enzyklika ein (nr.26). Und umgekehrt sind die besorgten Worte des Papstes über die gegenwär­tige Situation der Philosophie nicht als Anklage (wie manche Kommen­tatoren meinten), sondern als Klage über den Verlust von Wahrheit und Sinn zu lesen. In einer Epoche, die sich selbst als „Post-Moderne” (nr.

Next

/
Thumbnails
Contents