Folia Theologica 9. (1998)
Karl-Josef Rauber: Mit der Kirche in die Zukunft unter der Führung des heiligen Geistes
16 K.-J. RÄUBER zil für die Glaubens- und Autoritätskrise verantwortlich gemacht. Dies sicherlich zu Unrecht. Die Schuld ist vielmehr bei jenen zu suchen, die das Konzil als Freibrief für willkürliche, von den Konzilstexten keineswegs autorisierte Interpretationen und Initiativen benutzten und bei den Gläubigen oft Verunsicherung, Verwirrung und Empörung hervorriefen. Auch schon weil man weithin das Wesentliche vom Unwesentlichen nicht zu unterscheiden vermochte und zum Beispiel die vom Konzil eingeleitete Liturgiereform als Verrat an der kirchlichen Tradition ansah, kam es zu übertriebenen Gegenreaktionen, die Kritik am Konzil und den mit ihm verbundenen Päpsten Johannes XXIII. und Paul VI. übten. Hier ist vor allem Marcel Lefebvre und die von ihm gegründete und geleitete Pius-Bruderschaft zu nennen. Auch andere Gruppierungen wie zum Beispiel die Petrus-Bruderschaft, die Una-Voce-Bewegung, das Engelwerk, obschon mit dem hl. Stuhl verbunden, tun sich mit der Annahme der Konzilsbeschlüsse schwer und halten am tridentinischen Ritus fest. Die wenigstens anfängliche Nachgiebigkeit und die inkonsequente Haltung von kirchlichen Würdenträgern solchen Gruppierungen gegenüber haben bei vielen Christen, die treu zu den Beschlüssen des Konzils stehen, Unsicherheit und Kritik hervorgerufen und die Autoritäts- und Glaubenskrise noch verschärft und, wenn auch unbeabsichtigt, die Gläubigen in sich gegenüberstehende Lager verwiesen. Hier ist zunächst festzuhalten, daß der Heilige Geist der Kirche immer neu hilft, sich mit der ursprünglichen Botschaft des Evangeliums zu identifizieren und damit ihre eigene Identität als Gemeinde Jesu Christi zu finden; dazu bedient er sich gerade auch der institutioneilen Formen in der Kirche, eben des kirchlichen Lehramtes, das auf besondere Weise für die Identität im Glauben verantwortlich ist. Die inhaltliche Identität des Glaubens wird ja dadurch gewahrt, daß der Heilige Geist im “Glaubenssinn” aller Gläubigen am Werk ist. Diesem gemeinsamen “Glaubenssinn” aus der Kraft des Heiligen Geistes heraus zu dienen, ihn lebendig zu erhalten und zu schärfen, ihn von modischen Abirrungen und Einseitigkeiten zu bewahren, ja ihm letztverbindliche Wegweiser und Grenzsteine zu setzen, darin muß die eigentliche Aufgabe des kirchlichen Lehramtes gesehen werden. Dieser Dienst kann darum nur dann gut gelingen, wenn er allgemeinkirchlich integriert und akzeptiert ist; wenn es der Gegenwart des Geistes nicht nur in den Glaubenszeugnissen der Überlieferung, sondern auch im Glaubenssinn der ihm anvertrauten Gläubigen und in den Zeichen der Zeit aufmerksam nachspürt.