Folia Theologica 6. (1995)

Bruno Primetshofer: Die Fähigkeit zum Ehekonsens nach Kanonischem Recht

DIE FÄHIGKEIT ZUM EHEKONSENS 11 2) Formen von Störungen des Vernunftgebrauchs Die Lehre unterscheidet zwischen vorübergehenden und dauernden Störungen des Vernunftgebrauchs, wobei eine Fülle von Krankheiten und deren im einzelnen vom medizinischen Fachmann (Psychotherapeut, Psy­chiater) zu begutachtende Erscheinungsbilder gegeben sind17. Die Bei­ziehung eines Fachgutachters ist bei Eheprozessen, in denen als Klage­grund Geisteskrankheit behauptet wird, zwingend vorgeschrieben, es sei denn, dies würde aufgrund der Umstände als offenkundig zwecklos er­scheinen (c. 1680). Freilich ist hier grundsätzlich zu bemerken, daß das medizinische (psychiatrische) Fachgutachten nicht die Stelle des über Ehefähigkeit bzw. Eheunfähigkeit entscheidenden Richters einnehmen kann. Dieser muß zwar das Fachgutachten heranziehen, hat aber dann, auf rechtliche Grundlagen gestützt, seine Entscheidung zu treffen. M.a.W., der Sachverständige hat vom Standpunkt seiner Wissenschaft eine Beurteilung vorzunehmen; die Frage der rechtlichen Bewertung ist ausschließlich Aufgabe des Richters18. Und dies umso mehr, als psychi­atrische Gutachten in bezug auf ein und dasselbe Krankheitsbild sich nicht selten erheblich voneinander unterscheiden19. Eine besondere Problematik stellen jene Geisteskrankheiten dar, die — wie z.B. die Schizophrenie20 — in sog. Schüben auftreten, d.h. wo es Perioden gibt, in denen der Vernunftgebrauch erheblich gemindert, ja vielleicht sogar ausgeschaltet ist, während in den Remissionsstadien (früher sprach man von „lucida intervalla”) der Kranke das Bild eines ge­sunden, normalen Menschen bietet. Es wird im allgemeinen präsumiert, daß auch im Zeitpunkt der Remission kein hinreichender Vernunftge­17 Vgl. die Aufzählung der Krankheitsbilder und deren Schweregrade bei HEIMERL-PREE, Kirchenrecht (Anm. 7), 216 f. 18 J. M. SERRANO RUIZ, La perizia nelle cause canonichë di nullitä matrimoniale, in: DirEccl CIV/1993 l, 80 über das Verhältnis von Sachverständigem und Richter: „...mai si deve domandare direttamente a un esperto se un matri­monio è nullo...Gli vengono chieste conclusioni, la conclusione arriva solo dal giudice" (Hervorhebungen im Original). 19 Vgl. die Entscheidung der SRR vom 21. 3. 1991 coram Doran, in MonEccl 116 (1991), 549. — Hier wird aus einer Entscheidung der SRR vom 21. 10. 1959 coram Lamas zitiert: „...scientiae particulares, ut psychiatria... ducun­tur tantum principiis particularibus; scientiae vero morales, iuridicae appli­cant principia universalia". 20 Ihre einzelnen Erscheinungsformen vgl. bei HEIMERL-PREE, Kirchenrecht (Anm. 7), 217.

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